Bei einer befreundeten Berufskollegin war Brustkrebs diagnostiziert worden. Nach der nötigen Operation verweigerte sie sich den möglichen Chemotherapien und Bestrahlungen. Zu sehr widersprachen diese ihrem Weltbild, ihrem Verständnis von Menschsein und Heilung. Sie setzte allein auf ihr psychisches Verhalten, auf ihre spirituellen Ressourcen und auf immer neue naturheilkundliche Methoden. Lange Zeit hatte sie Erfolg damit. Sie durfte noch mehrere Jahre gut und mit Freude leben und die Arbeit in ihrer Praxis und ihre engagierte Lehrtätigkeit aufrechterhalten. Immer wieder haben wir uns in dieser Zeit getroffen und über ihre offene Einstellung zum Heilungsprozess, aber auch zum Sterben gesprochen.
Dann kam die Zeit, als der Krebs wieder aktiver wurde und ihr sehr grosse Schmerzen bereitete. Als ihre Naturheilmittel nicht mehr halfen, stimmte sie aus Verzweiflung und zur Linderung der Schmerzen doch einer Chemotherapie zu. Es half eine Weile, doch ihre Lebenskraft nahm rapide ab. Bei unseren Treffen erschien sie mir immer sehr demütig annehmend und humorvoll pragmatisch, was mich mit grossem Respekt erfüllte. Schon ziemlich schwach geworden und mit Perücke behandelte sie immer noch einige ihrer geliebten Kinderpatienten. Sie musste in dieser Phase auch einen Umzug bewältigen, weil ihr das Treppensteigen zu anstrengend geworden war. Doch wollte sie so lange wie möglich unabhängig leben. Mit gelegentlicher Hilfe von Familie und Nachbarn gelang ihr das auch.
Als sie spürte, dass der Übergang nahte, hat sie sich selber in ein Hospiz eingewiesen. Hier lebte sie noch drei für sie lange Monate. Sie wurde von erfahrenen Pflegenden mit starken Schmerzmitteln und viel Liebe betreut und war sehr zufrieden. Bei meinen Besuchen sprach sie oft von einem Tor, das sie vor sich spüre. Sie sei bereit, hindurch zu gehen. Dahinter würden sie ihre lieben Vorangegangenen erwarten. Einmal seufzte sie, sie verstehe nicht, warum die da oben sie noch so lange warten liessen. Ich meinte, vielleicht, weil sie immer noch so viel zu geben habe. Ich hatte festgestellt, wie sie allen BesucherInnen - ihrer Familie, Kolleginnen, Klientinnen - mit ihrer demütigen und hoffnungsvollen Bereitschaft zum Sterben Trost spendete. Vielleicht sei das einfach noch ihre letzte Aufgabe hier auf Erden. Sie lächelte, wir waren uns wie in früheren Gesprächen einig über den oft unergründlichen Sinn in Allem.
In ihren letzten Tagen durfte ich sie noch einige Male behandeln. Sie nahm es dankbar an, und ich war froh, etwas geben zu können und die gemeinsame heilsame Energie zu spüren, die zwar nicht ins Leben zurückführte, aber einem guten Übergang im Sterben diente. Immer wieder ging ich in neu gewonnener Ruhe und spiritueller Zuversicht von ihr weg. Beim letzten Besuch war sie sehr weit weg. Sie pendelte zwischen einer anderen Welt und dem Wahrnehmen von uns Besuchern hin und her, lächelte immer wieder, strahlte ein grosses Einvernehmen, ein Staunen und einen tiefen Frieden aus. Am nächsten Tag bekam ich die Nachricht von ihrem definitiven Hinübergegangensein.
Die Beerdigung war mit Hilfe einer Ritualfrau sehr schön gestaltet. Um den Altar in einer gemieteten Kirche waren Blumen, Fotos, Zeichnungen der Enkel und Grussworte von Berufskolleginnen drapiert. Beim Eingang erhielten alle Teilnehmenden der Abschiedsfeier eine kleine Kerze zum Aufstellen beim Altar als Dankeszeichen. Die Ritualfrau las einen sehr lebendigen, von den Kindern geschriebenen Lebenslauf vor. Musikerfreunde spielten eine wunderbar fröhliche Musik. Ein liebevoller Brief ihres Bruders aus Übersee wurde vorgelesen, auch ihre Kinder sprachen Dankesworte an sie. Am Schluss durften Anwesende frei aussprechen, was ihnen ein Bedürfnis war. Durch die spontane Authentizität war das sehr berührend und verstärkte das Gemeinschaftsgefühl aller Anwesenden, was sich später beim Abschiedsmahl in angeregten Gesprächen fortsetzte.
Ich bin sehr dankbar, dass ich diese Freundin auf ihrem letzten Weg begleiten und dabei so viel lernen durfte. Sie ist mir ein grosses Vorbild und ich kann nur hoffen, dass ich auch einmal gelassen und zuversichtlich gehen darf.
Maru
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