Heidi Witzig
Seit Jahrhunderten lebten Frauen, Männer und Kinder in der Schweiz in der Arbeits- und Lebensform des «Ganzen Hauses». Meist waren dies Dreigenerationen-Familien mit ledigen Töchtern und Söhnen und allenfalls Knechten und Mägden. Die grosse Mehrheit der Bevölkerung lebte auf dem Land, in bäuerlichen, gewerblichen oder Heimarbeits-Familienwirtschaften. Und alle, wirklich alle, arbeiteten produktiv. Nur so war ein Auskommen überhaupt möglich. Allenfalls übernahm ein altes oder nicht ganz arbeitsfähiges Familienmitglied die Betreuung kleiner Kinder oder kranker Menschen, also das, was wir heute als Care-Arbeit bezeichnen. Zentral war lediglich das Kochen, um alle möglichst gesund und arbeitskräftig zu erhalten.
(Fortsetzung)
Während der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts, als unser heutiges Gesellschafts- und Produktionssystem seinen Siegeszug antrat, wurde erstmals eine Trennung der Sphären von Frauen und Männern möglich, die es vorher nie für breite Schichten gegeben hatte: Die Männer konnten erstmals eine Familie allein ernähren; Frauen und Kinder konnten erstmals zu Hause «unproduktiv» bleiben. Im Haus entwickelte sich ein neuer wichtiger Aufgabenbereich: Die Pflichten als Gattin (emotionale Zuwendung zum Gatten, der sich ausser Haus verausgabte), als Mutter (unterschiedliche Erziehung für Mädchen und Knaben, damit sie für ihre spezifischen Aufgaben in der Frauen- bzw. Männerwelt vorbereitet waren), als Hausfrau in einem grossen repräsentativen Haushalt (Leitung eines Haushaltbetriebs mit Angestellten).
Gott- und naturgewollte Geschlechterrollen und Charaktereigenschaften
Die Trennung von Frauenwelt und Männerwelt war nicht nur äusserlich. Auch innerlich wurden beide Geschlechter auf ihre spezifischen Aufgaben zugerichtet. Kirche, Medizin und später auch die Psychologie begründeten unermüdlich den unterschiedlichen gott- respektive naturgewollten sogenannten Geschlechtscharakter von Frauen und Männern. Das heisst: Wesen und Charakter der Frau bestimmten diese zum Dienen, kurz zum Handeln im Privaten unter Aufsicht des Mannes. Wesen und Charakter des Mannes hingegen bestimmten ihn zum Herrschen, zum Rationalen, kurz zum Konkurrieren in der beruflichen und politischen Öffentlichkeit und zum Dominieren in der Familie. Bis ins 20. Jahrhundert hinein bestimmte das Gesetz den Mann als Vertreter des familiären Bereichs gegen aussen.
Prägendes Familienmodell
Dieses Modell war bis nach dem Ersten Weltkrieg nur in den aufsteigenden Schichten Realität – in Familien der Fabrikanten, höheren Kader in Büros, Beamten, Ärzten, Juristen usw. Doch die Botschaft dieser erfolgreichen bürgerlichen Familienordnung war als erstrebenswertes Vorbild prägend für die gesamte Bevölkerung.
Das Leben von Frauen und Männern entwickelte sich zunehmend auseinander; Erziehung, Lebensperspektiven und Lebenswirklichkeit waren grundverschieden. Und beide Entwicklungen führten zu Deformationen: Frauen delegierten ihre Rationalität und oft auch ihr Selbstbewusstsein an die Männer – diese hingegen delegierten ihre Emotionalität und ihre Tugenden des Sich-Einfühlens an die Frauen.
Care als freiwilliger Liebensdienst
Für die Frauen bedeutete diese Zuweisung zu einer spezifischen Frauenwelt, dass sie seit bald 200 Jahren die gesellschaftliche und psychische Disposition zum Dienen gelernt und oft verinnerlicht haben. Diese Vorstellungen prägten den Begriff der Arbeit inner- und ausserhalb der Familie zutiefst: Jede Arbeit, wo auch immer und wie auch immer, stand unter dem Motto des Dienens. Es lässt sich nachweisen, dass auch Frauen der unteren Schichten, deren Arbeit noch um 1900 lebensnotwendig für das Auskommen der Familie war, diese immer mehr als «Arbeit aus Liebe» verstanden, die ihrem Wesen entspreche. Auch Arbeit ausserhalb der Familie, für alleinstehende Frauen in den letzten hundert Jahren lebensnotwendig, galt in erster Linie als «Dienst» für andere und deshalb kaum in Geld messbar. Das ist der tiefere Grund, weshalb «Frauenberufe» bis heute schlechter bezahlt sind als «Männerberufe».
Care im Neoliberalismus
Ab den 1990er Jahren galt die Devise, die Aufgabe des Staates sei lediglich, optimale Rahmenbedingungen für die Wirtschaft zu schaffen. Das ökonomische Denken stiess in alle Bereiche menschlichen Handelns vor. Es wurde – und wird teilweise auch heute - systematischer Raubbau getrieben an unseren materiellen und sozial lebensweltlichen Grundlagen. Mit dem Rückzug des Sozialstaats gerieten unter anderem auch die Kosten der staatlichen Angebote in Pflege und Betreuung unter Druck: Die Folge sind verschlechterte Bedingungen in der Pflege, Zeitdruck in den Spitälern und Krankenheimen, Diskussionen um die Finanzierbarkeit des hohen Alters. Die Manifestgruppe der GrossmütterRevolution hat sich ausführlich mit der Thematik der Care-Arbeit befasst und eine Studie dazu herausgegeben*.
Vielfältige Herausforderungen
Was heisst das nun für die heutigen Diskussionen um «Care»?
Die Herausforderungen sind vielfältig und erschüttern nicht nur das traditionelle Selbstverständnis von Frauen und Männern, sondern auch unsere gesellschaftliche Ordnung, die auf ständiges Wachstum und geschlechtsspezifische Arbeitsteilung setzt. Ebenso sind wir herausgefordert, die Rolle des Sozialstaats, seiner Garantien und seiner Grenzen, neu zu formulieren. Frauen, wir sind dabei - wann und wo auch immer es darum geht, der Care-Arbeit zu ihrer eigentlichen Bedeutung zu verhelfen.
Heidi Witzig (1944) lebt in Winterthur. Sie ist Historikerin mit Schwerpunkt Geschlechter- und Alltagsgeschichte und Mitglied der GrossmütterRevolution.
*Elisabeth Ryter, Marie-Louise Barben (2015): Care-Arbeit unter Druck. Ein gutes Leben für Hochaltrige braucht Raum.
Zur Studie
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