Text & Foto: Marianne Stohler
In der gemütlichen Wohnung in einer ausgebauten Scheune neben dem stattlichen, wunderschönen alten Bauerhaus lebt die bald 71jährige Magdalen Baumann mit ihrem Mann. Der Blick aus den grossen Fenstern schweift weit über die sanften Hügel des Hirzels zum Zürichsee und bis zu den noch tiefverschneiten Bergketten. Die Wohnung ist heimelig eingerichtet. Auf dem kleinen Tisch bei der Sitzgruppe steht ein Feldblumenstrauss. Den Hauptplatz nimmt der grosse Tisch ein, an dem viele Personen Platz haben. Grosse Tische ziehen sich durchs Leben von Magdalen. Schon in ihrer Kindheit im Pfarrhaus wohnte sie in einem offenen Haus mit einem Tisch, an dem auch immer Unangemeldete willkommen waren.
(Fortsetzung)
Starke Frauen
Magdalen wuchs als jüngstes von drei Kindern auf. Schon vor ihrer Geburt war ein weiterer, zweijähriger Bruder an einem geplatzten Blinddarm gestorben. Die Mutter erholte sich auch nie mehr ganz von einer früheren Schwangerschaftsvergiftung mit einer Totgeburt. Sie starb, als Magdalen erst 14 Jahre alt war. Diese hatte zwar den Tod der beiden Geschwister selber nicht miterlebt. Doch war die Familie durch diese Schicksalsschläge und die kranke Mutter sehr belastet. Deshalb übernahm sie schon früh sehr viel Verantwortung, besonders auch, weil ihre ältere Schwester behindert war.
In ihrer Familie gab es seit jeher starke Frauen. Das galt für ihre Urgrossmutter wie auch für ihre Grossmütter. Die eine hatte bereits zu jener Zeit das Mädchengymnasium besucht, die andere als Kindergärtnerin einen Kindergarten mit 80 Kindern betreut.
Auch ihre Mutter engagierte sich als Frau des Pfarrers viel in der Kirchgemeinde, hatte ein offenes Ohr für alle und führte ein sehr offenes Haus. Dem Vater aber hielt sie Konflikte so weit wie möglich vom Leibe. Dadurch wurde Magdalen schon früh klar, dass sie, im Gegensatz zur Mutter, Konflikte nicht verdrängen wollte. Sie trägt diese bis heute lautstark aus, denn es ist ihr wichtig, dass alles auf den Tisch kommt und durchdiskutiert wird.
Eine spannende Ausbildung und der «tollste Beruf»
Nach der Schulzeit am Gymi und an der Diplommittelschule standen verschiedene Berufsrichtung zur Diskussion. Zuerst waren es eher künstlerische Berufe. Bald aber wurde ihr klar, dass es ein Beruf mit und für Menschen sein musste. Ihre Wahl fiel auf die Ergotherapie, verlangt dieser Beruf doch sehr viel Kreativität in der Rehabilitation und Integration von Menschen jeden Alters. Nach Praktika in der Erwachsenenpsychiatrie, der Paraplegie, der Handchirurgie folgten zwei Arbeitsjahre im Burghölzli. Nach den sehr spannenden, aber belastenden Jahren kündigte sie, orientierte sich Richtung Kinderpsychiatrie und arbeitete auf der psychotherapeutischen Station des Kinderspitals in Zürich.
Ergotherapie in der Kinderpsychiatrie war zu jener Zeit ganz neu. Die Rolle der Ergotherapie im Therapiesetting zu finden, faszinierte Magdalen sehr. Von Anfang an fand sie, sie hätte den tollsten Beruf gewählt. Sie interessierte sich für alles und blieb ihr Leben lang eine überzeugte und begeisterte Ergotherapeutin.
Als sie im Jahr 1978 angefragt wurde, die Stelle für Früherfassung an der Primarschule Egg zu übernehmen, nahm sie an. Sie war überzeugt, dass die Erfolgschancen bei Kindern mit Entwicklungsschwierigkeiten grösser sind, wenn die Therapie so früh wie möglich beginnt. Gleichzeitig übernahm sie eine Zeitlang eine Dozentenstelle im Bereich Kinder an der Schule für Ergotherapie.
Der grosse Umbruch
In dieser Zeit lernte sie den Bruder einer Arbeitskollegin kennen und lieben. Sie spürte, dass sie bei und mit ihm ganz sie selber sein konnte. Durch die Heirat nahm ihr Leben eine radikale Wende. Sie musste sich nicht nur bald in die Rolle einer Mutter von zwei Buben einleben, sondern auch in diejenige einer Bauersfrau, da ihr Mann den elterlichen Hof übernommen hatte. Wie sollte sie da in ihrem Beruf noch weiterarbeiten können? Ein Unterbruch der beruflichen Tätigkeit war zwingend. Sie wusste aber von Anfang an, dass das nur eine Zwischenlösung sein kann. Schwer fiel ihr, dass sie durch die Heirat ihren Namen wechseln musste, hatte sie sich doch als Berufsfrau einen Namen geschaffen.
Sie bildete sich zur Haushaltslehrmeisterin aus und hatte 14 Haushaltslehrtöchter. Als die Kinder älter wurden, übernahm sie ab 1986 wieder Vertretungen im Spital oder in Ergotherapie-Praxen. So blieb sie am Ball. Während dieser Zeit wurde ihr klar, dass sie nur noch mit Kindern arbeiten möchte. Das bedingte viele Weiterbildungen. Sie spezialisierte sich auf sensorische Integrationstherapie. Den Entwicklungsstand der Kinder abzuklären und gemeinsam mit Eltern und Schule Ziele mit den Kindern zu formulieren, war ihr dabei ein zentrales Anliegen. 1994 eröffnete sie eine eigene Praxis. In der Schule im Hirzel konnte sie sich einmieten. Den Aufbau der in die Schule integrierten Ergotherapie beschäftigte sie bis kurz vor ihrer Pensionierung 2018.
Das offene Haus
Obwohl der Beruf in Magdalens Leben eine zentrale Rolle einnahm, war sie auch eine engagierte Familienfrau. Da sie mit ihrem Mann in einem geräumigen Haus an einem sehr schönen Ort lebte, war es für die beide selbstverständlich, dieses Privileg mit andern zu teilen. So gingen viele Menschen bei ihnen ein und aus. Sie und ihr Mann engagierten sich bei «Landwirtschaft und Behinderte» und beschäftigten immer ein bis zwei Menschen mit Beeinträchtigung auf dem Hof, daneben Lehrlinge und Angestellte.
1991 nahmen sie auch noch zwei Geschwister als Pflegkinder auf. Diese sind heute berufstätig und selbständig, stehen jedoch immer noch in engem Kontakt mit der Familie.
Einiges später kamen nochmals zwei kleine Buben als Pflegkinder dazu. Diese absolvieren nun ihre Ausbildung und leben wohl noch einige Zeit bei ihnen.
Der nicht ganz einfache Ruhestand
Organisieren und Planen war seit jeher Magdalens grosse Fähigkeit. Je mehr sie zu tun hatte, desto mehr kam sie in Schwung, denn neben der intensiven Berufs- und Familienarbeit engagierte sie sich auch gesellschaftspolitisch insbesondere für Menschen, die es nicht einfach haben. Woher nahm und nimmt diese Frau all diese Energien? Sie meint: «Die Arbeit in der Natur und mit den Tieren gibt mir viel Kraft. Auf dem Hof läuft selten etwas wie geplant. Dauernd gibt es Unvorhergesehenes. Es ist eine gute Lebensschule, die zeigt: Du bist nur ein kleiner Teil eines grossen Ganzen.»
Vor drei Jahren übergab das Paar den grossen Hof an Sohn und Schwiegertochter und zog in die ausgebaute Scheune nebenan. Jetzt könnte sich Magdalen eigentlich zurücklegen, aber noch schafft sie es nicht, einen Nachmittag lang einfach gemütlich zu lesen oder zu nähen. Noch kann sie nicht ganz loslassen. Sie spürt: «Ich muss aktiv bleiben und auch für andere tätig sein, um Befriedigung zu finden.»
Alte Rollen aufgeben, neue finden und dabei das immer älter und langsamer Werden integrieren, ist für sie alles andere als einfach. Auch gesellschaftlich fühlt sie sich weniger akzeptiert, seit sie nicht mehr berufstätig ist. Was bleibt, ist das offene Haus, das sie seit ihrer Kindheit pflegt. Sie freut sich, wenn Kinder und Grosskinder bei ihr ein- und ausgehen und sie alle an ihrem grossen Tisch bewirten kann.
In dieser Rolle unterstützt sie weiterhin ihre Frauengruppe, die seit den Siebzigerjahren existiert. Es sind Frauen aus der Stadt, Freundinnen aus alten Zeiten. Weil sie sich als Bauersfrau nie ganz ausgefüllt fühlte, war ihr die Gruppe wichtig. «Sich regelmässig mit Frauen in anderen Lebensrealitäten auszutauschen, gibt Kraft und grosse Dankbarkeit.»
So ist Magdalen nach wie vor offen für das, was noch kommen wird, gespannt darauf, wie sie den neuen Lebensabschnitt bewältigen wird und zuversichtlich, dass es gelingen wird.
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