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Sagen, was wahr ist: Wirtschaft ist Care

Ina Praetorius

Jeden Werktag Abend zur besten Sendezeit berichtet das öffentlich rechtliche Fernsehen der deutschsprachigen Schweiz über die Entwicklung der Börse. Ich höre mir die drei Minuten «SRF Börse» vor der Hauptausgabe der Tagesschau so regelmässig wie möglich an, kann mich aber nicht erinnern, da jemals von dem erheblichen Arbeitsvolumen erfahren zu haben, das unter den elegant auf- und absteigenden Kurven des Swiss Market Index verborgen liegt. Zwar gäbe es weder das Fernsehstudio am Leutschenbach noch den Chefredakteur Reto Lipp, weder Banken noch SMI, wenn niemand dafür sorgen würde, dass die Hemden gebügelt, die Klos geputzt und die Kinder in die Schule geschickt werden. Aber es ist halt tatsächlich nicht so faszinierend, dass durch die Arbeitsteilung zwischen der Welt der Krawatten- und Stiletto-Träger*innen und der unbezahlten Haushaltsproduktion die Frauen in der Schweiz um jährlich ungefähr 100 Milliarden Franken betrogen werden. [1]

(Fortsetzung)

Care-Arbeit: Nicht schon wieder!
Am 24. März 2019 sendete Radio SRF ein halbstündiges, von Norbert Bischofberger moderiertes Gespräch zwischen dem Ökonomieprofessor Mathias Binswanger und mir. Das Thema hiess: Eine neue Ökonomie. Für einmal sprachen wir über die ausgeblendete Grundlage des profitgetriebenen Wirtschaftens und über die Frage, wie die ganze Ökonomie sichtbar werden kann, und zwar überall: in den Medien, in der Wissenschaft, im Bruttoinlandsprodukt, in der Schule, in Alltagsgesprächen. Als ich nach diesem Gespräch die Redaktionsleiterin von «SRF Sternstunden», Judith Hardegger, per Twitter fragte, ob sie das Missverhältnis zwischen dem dominanten Marktfundamentalismus und der notorisch verschwiegenen Basis der Produktionsmaschinerie nicht auch einmal in den «SRF Sternstunden» zum Thema machen wolle, schrieb sie mir am 18. April 2019 zurück, sie sehe keinen Anlass, das Thema «grad nochmal» zu bringen. [2]

Ein seltsames Verständnis von Ökonomie
Dass das Schweizer Fernsehen auch noch fünfzig Jahre nach der Einführung des Frauenstimmrechts täglich über die Börse, aber nur alle paar Monate über Care-Ökonomie berichtet, ist ärgerlich, aber logisch: Man hat mit guten Gründen Angst vor den gewaltigen Zahlen, die das Bundesamt für Statistik seit bald fünfundzwanzig Jahren unbeirrt der Öffentlichkeit zur Verfügung stellt. Denn wenn alle über das «Satellitenkonto Haushaltsproduktion»[3] Bescheid wüssten, würde wohl unweigerlich eine Protestlawine gegen den unsachgemäss verengten Ökonomiebegriff und seine weitreichenden Folgen anrollen. Deshalb bleibt man lieber beim gängigen Narrativ von den defizitären Frauen, die «aufholen müssen», um endlich in «die Wirtschaft» integriert zu werden. Am Frauen*streiktag, dem 14. Juni 2021 zum Beispiel, berichtete die Wirtschaftssendung SRF Eco über den «chronischen Frauenmangel in der IT-Branche». Ich hätte mir stattdessen Nachdenklichkeit über Bullshit-Jobs [4] und Ökosystemrelevanz gewünscht, oder über den Pflexit und die Pflegeinitiative, oder wenn schon über Digitalisierung, dann über die Frage, wann sie Sinn macht und wann nicht, und über toxische Männlichkeit in der IT-Branche. Wer aber die verantwortlichen Redakteur*innen zur Parteilichkeit der Programmpolitik befragt, bekommt noch immer die altväterliche Mär von den «Liebesdiensten» und den «gegenseitigen Hilfeleistungen» zu hören. So schrieb mir Stefan Barmettler, der Chefredakteur der «Handelszeitung» am 30. Oktober 2019, viele Eltern fassten Erziehungsarbeit doch als «Akt der Zuneigung, Verantwortung und Freude» auf und wollten deshalb bestimmt nicht dafür bezahlt werden. Dass Care-Arbeit oft Freude macht, ist zwar vollkommen richtig. Das gilt aber hoffentlich auch für die Arbeit von Anwält*innen, Unternehmer*innen oder Professor*innen, denen es im Allgemeinen problemlos gelingt, Verantwortungsbewusstsein und Freude mit anständigen Löhnen zu vereinbaren.

Ein notwendiger Perspektivenwechsel
Wie kann es gelingen, das allgemeine Verständnis von Ökonomie so zurechtzurücken, dass nicht mehr das Geld und die profitgetriebene Produktion überflüssiger oder gar schädlicher Güter die Mitte des Ganzen bilden, sondern «das Leben und seine Erhaltung, ... das Sorgen für die Welt, ... der Einsatz für einen kulturellen Wandel»? [5]
Wir Grossmütter der Boomer*innen-Generation haben in diesem notwendigen Perspektivenwechsel eine wichtige Aufgabe: Weil wir unsere Karrieren hinter uns haben, weil wir uns und anderen nichts mehr beweisen müssen, können wir denen, die es hören wollen, und auch denen, die es nicht hören wollen, immer wieder laut und deutlich sagen, was wahr ist: «Ökonomie ist die Gesamtheit aller Einrichtungen und Handlungen, die der planvollen Befriedigung der Bedürfnisse dienen», [6] und zwar der Bedürfnisse all der Milliarden Menschenwürdeträger*innen, die zusammen mit unzähligen anderen Lebewesen den verletzlichen Lebensraum Erde bewohnen. Und: «Es ist Aufgabe der Wirtschaftslehre zu untersuchen, wie die Mittel zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse am sinnvollsten hergestellt, verteilt und ge- oder verbraucht werden.» [7] Wirtschaftswissenschaftliche Fakultäten und Fachbereiche, allgemeinbildende Schulen und Medien haben die Pflicht, uns diese grundlegende Definition der Oiko-Nomia, der Lehre vom guten Welthaushalten, nicht vorzuenthalten. Zur besten Sendezeit braucht es in der Schweiz eine Sendung, die «SRF Zukunft» heisst. Es braucht Care-zentrierte Wirtschaftswissenschaft an allen Fakultäten und Fachbereichen. Es braucht neue Schulbücher für unsere Enkel*innen, denn sie sollen lernen, dass Wirtschaft mit dem Frühstück zuhause und dem Einsatz für ein menschenfreundliches Klima beginnt, und nicht mit der Kreditkarte. Und dass Gott kein «Herr» ist, sondern der Inbegriff der Verbundenheit von allen mit allem.

(K)ein Spaziergang
Die Siebte Schweizer Frauen*synode, die seit Januar 2017 als synodaler Prozess unterwegs ist, hat der weltweiten Bewegung für ein Care-zentriertes Wirtschaften einen neuen Anstoss gegeben. Eigentlich hätte die Synode wie immer eine grosse Versammlung werden sollen: am Samstag, 5. September 2020, in der Stadthalle von Sursee. Weil diese Versammlung pandemiebedingt abgesagt werden musste, können jetzt alle durch Sursee spazieren, wann und mit wem sie wollen. Die Broschüre «Wirtschaft ist Care - (K)ein Spaziergang» der Frauen*synode begleitet uns alle auf diesem Weg durch das Städtchen im Herzen der Schweiz - und weit darüber hinaus (www.frauensynode2021.ch).


Ina Praetorius, Dr. theol., geb. 1956 in Karlsruhe, ist freie Hausfrau, konfessionslose Theologin, Autorin, Bloggerin und seit dem 31. Mai 2019 Grossmutter. Sie hat im Dezember 2015 den Verein „Wirtschaft ist Care“ mitbegründet und vertritt diesen Verein im Team der Siebten Schweizer Frauen*synode.


[1] Wie die Frauen um 100 Milliarden betrogen werden (Gespräch mit Mascha Madörin in: WOZ vom 30.05.2019)
[2] Vgl. Ina Praetorius, SRF Börse braucht es nicht (22.05.2019)
[3] www.bfs.admin.ch
[4] David Graeber, Bullshit-Jobs. Vom wahren Sinn der Arbeit, Stuttgart 2018.
[5] Michaela Moser, Art. «Care» in: Ursula Knecht u.a., ABC des guten Lebens.
[6] Wikipedia deutsch, Art. «Wirtschaft».
[7]
Günter Ashauer, Grundwissen Wirtschaft, Stuttgart 1973, 5.

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