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Feministinnen voller Tatendrang

Marie-Louise Barben

50 Jahre Frauenstimmrecht – Anlass, um zurückzuschauen, zu analysieren, kritisieren, feiern. Aber was treibt eigentlich junge Feministinnen heute um? Ich habe ich mich zum Gespräch getroffen mit Moana Mika und Lirija Sejdi vom Frauenstreik-Kollektiv Bern. Die beiden Frauen haben unterschiedliche berufliche Hintergründe. Moana ist promovierte Medizinwissenschafterin und arbeitet im HIV-Bereich. Lirija hat Soziologie und Politikwissenschaften studiert und ist Projektmitarbeiterin im Gesundheitsbereich beim VPOD. Sie haben aber eine gemeinsame Leidenschaft. Im Vorfeld des Frauenstreiks 2019 sind sie politisch aktiv geworden. Lirija ist seit fast drei Jahren, Moana seit einem Jahr aktiv in der Koordinationsgruppe des Frauenstreik-Kollektivs und beide sind in der Arbeitsgruppe Frauenpolitik.

Marie-Louise: Welche Themen stehen in eurer Arbeitsgruppe im Vordergrund? Wie wählt ihr eure Themen?

Moana: Wir orientieren uns an der politischen Agenda, an den Abstimmungsvorlagen. Wir planen Aktionen dazu. Während der Coronazeit verlegten wir unsere Aktivitäten mehrheitlich in die sozialen Medien.

Lirija: Ein Schwerpunkt in diesem Jahr ist die AHV-Revision. Selbstverständlich haben wir uns an der Demo beteiligt. Jetzt steht die Frauensession von Ende Oktober im Vordergrund. Vier Aktivistinnen des Kollektivs wurden gewählt, unter anderen ich.

«Betreffend Erhöhung des Rentenalters für Frauen auf 65», werfe ich ein, «seid ihr euch einig, dass das keine Option ist? Ich weiss, das ist ein Tabubruch, aber über kurz oder lang wird sie wohl unvermeidlich sein. Sollten wir nicht eher auf die Besserstellung der Frauen in der beruflichen Vorsorge hinarbeiten, wo ja die Unterschiede zwischen Frauen und Männern viel grösser sind?» Lirija schaut entsetzt und weist unter anderem auf die immense Leistung der Care-Arbeit von Frauen hin. Ich kenne die Argumente. Und es stimmt: Dieses eine Jahr ist unser letztes Pfand, ohne Lohngleichheit dürfen wir es nicht hergeben.

Zurück zur Frauensession. Lirija und eine weitere Frau des Kollektivs sind in der Kommission für Arbeit und Absicherung. Zwei vorbereitende Sitzungen haben bereits stattgefunden.

Marie-Louise: Was erhofft ihr euch von der Frauensession?

Lirija: Anfangs dachte ich, es sei vor allem interessant und lehrreich, z.B. die politischen Abläufe besser kennenzulernen. Nach der ersten Vorbereitungssitzung merkte ich: Es ist viel mehr. Es sind viele Frauen dabei, die bis jetzt nicht politisch aktiv waren. Die Meinungsvielfalt ist gross und nicht einfach dem Rechts-links-Schema zuzuordnen. Ein grosses Netzwerk ist am Entstehen. Wir erhoffen uns, dass durch die mediale Öffentlichkeit Druck entsteht, die Petitionen, die in den vorbereitenden Kommissionen erarbeitet wurden, auch umzusetzen. Unsere Kommission fordert zum Beispiel, dass in der Bundesverwaltung ein veritables Bundesamt für Gleichstellung entsteht anstelle des aktuellen kleinen Bürölis.[1]

Unterdessen hat die Frauensession stattgefunden. Lirija schreibt mir: «Die Frauensession hatte einen unglaublichen Drive. Wir haben jeder Redner:in zugejubelt. Und es wurde höchst konzentriert gearbeitet. Daneben gab es viele Möglichkeiten zum Netzwerken. Kurz: Es war sehr inspirierend und macht Lust auf mehr. Die verabschiedeten Forderungen sind ein wichtiges Zeichen und werden hoffentlich die eine oder andere Debatte im Parlament und beim Bundesrat auslösen.»

Marie-Louise: Sprechen wir über die AG Politik: Wie sind eure Arbeitsweise und eure Diskussionskultur in der Arbeitsgruppe? Welche Aktionsformen wählt ihr?

Lirija und Moana: Wir führen angeregte Diskussionen, aber wir haben – nicht erstaunlicherweise – ähnliche Meinungen. Wir orientieren uns wie gesagt an den frauen*politisch aktuellen Themen und wir versuchen, sie sichtbar zu machen – auf der Strasse und in den sozialen Medien. So haben wir zum Beispiel im Vorfeld der Abstimmung zum Verhüllungsverbot die Einstein-Skulptur im Rosengarten violett eingekleidet. 2019, am Tag der Vereidigung des neuen Parlaments, waren wir mit Putzlappen vor dem Bundeshaus und forderten symbolisch dazu auf, nun endlich die Politik vom Staub des Patriarchats zu befreien. Und selbstverständlich sind wir jeweils am 14. Juni aktiv. Wir organisieren aber auch intern Workshops zu politisch aktuellen Themen, z.B. zur AHV-Debatte.

Der Politologe Werner Seitz hat im Zusammenhang mit dem 50-Jahre-Jubiläum aufgezeigt, wie wichtig - und erfolgreich – der öffentliche Druck gerade in Zusammenhang mit Wahlen in den letzten Jahrzehnten gewesen ist. [2]

Marie-Louise: Sind Wahlen für euch überhaupt ein Thema?

Lirija und Moana: Ja, das sind sie. Wir haben uns anlässlich der Nationalratswahlen wie auch der Stadtratswahlen geäussert. Wobei wir uns jeweils weder für Parteien noch für Einzelpersonen noch generell für Frauen stark machen. Denn wir wollen ja keine weiteren Magdalena-Blochers im Parlament.
Bei den Wahlen in der Stadt Bern haben wir uns auf die Aussagen «geht wählen» und «wählt feministisch» konzentriert.

Marie-Louise: Die Genderforscherin Franziska Schutzbach hat kürzlich ein Buch veröffentlicht, in welchem sie darlegt, dass die Frauen in der Berufswelt Fuss gefasst hätten, allerdings zum Preis der Erschöpfung.[3] Wie erlebt ihr das?

Moana: Ich bin alleinlebend und kinderlos. Und ich habe Glück gehabt: Ich habe am Arbeitsplatz eine Chefin, die mich sehr unterstützt. Mir ist aber bewusst, dass es Frauen mit Kindern viel schwieriger haben. Aber auch ich kenne den «Mental load», also das Verantwortungsgefühl für die unsichtbare Arbeit, die meist den Frauen zufällt.

Lirija: Ich bin ebenfalls kinderlos und kenne die Diskussion natürlich auch. Männer beteiligen sich heutzutage zwar mehr im Haushalt oder an der Kinderbetreuung, aber die unterschiedliche Wahrnehmung, z.B. was überhaupt Arbeit ist, Stichwort Care-Arbeit, ist nach wie vor da. Ein Mann, der ‘nur’ 80% arbeitet ist schon fast ein Held, während eine Frau, die 80% arbeitet, schon fast eine Rabenmutter ist.

Marie-Louise: Gegenwärtig ist Identitätspolitik in aller Munde. Wie wird sie bei euch im Kollektiv diskutiert, gelebt?

Moana und Lirija betonen, dass das Kollektiv mitten drin in dieser Diskussion stehe. Eine konsolidierte Meinung oder Stellungnahme dazu gebe es nicht.
Rufen wir in Erinnerung: Identitätspolitik meint die Ansprüche von politischen Bedürfnissen als solche wahrnehmen, die uns alle angehen, auch wenn sie im Namen von Minderheiten geäussert werden.[4]

Moana und Lirija: Im Gedankenaustausch ist es wichtig, dass alle ihre persönlichen Gedanken äussern können; Aufmerksamkeit, Toleranz und Achtsamkeit allen gegenüber sind Voraussetzung.

Marie-Louise: Wie tritt das Kollektiv gegen aussen auf?

Moana und Lirija: Das ist einmal eine Frage der Ansprache, der Schreibweise, die zu Diskussionen führt, aber auch inhaltlicher Art. Sprachlich: Es gibt mehrere Möglichkeiten, aber genügen das Sternchen (Frauen*) oder der Doppelpunkt (Teilnehmer:innen)? Die Heterogenität ist gross, die Vielfalt, die Unterschiedlichkeit der Feminismen und Genderidentitäten müssen Platz haben. Das Kollektiv ist offen für alle, ausser, definitiv, für CIS-Männer. Wir kämpfen gemeinsam gegen das Patriarchat weisser CIS-Männer.

Marie-Louise: Haltet ihr Identitätspolitik für spaltend oder für solidarisierend?

Moana und Lirija: Wenn globale Normen wie Weiblichkeit, Männlichkeit angegriffen werden, ist das in einer gewissen Weise spaltend, aber auch gewollt, denn es geht ja gerade darum, diese globalen Normen aufzuweichen und zu verändern. Es braucht zunächst eine Abspaltung, um das Bewusstsein für Ungerechtigkeiten zu erwecken. Es ist uns auch bewusst, dass wir – die Mehrheit des Kollektivs – privilegiert sind im Sinne von gut ausgebildet und finanziell abgesichert. Aber das Kollektiv ist trotzdem bunt. Die Powerfrauen mit Migrationshintergrund sind zum Beispiel ein unverzichtbarer Bestandteil.
Es ist uns bewusst, dass die Diskussion um Identitäten nie abgeschlossen sein wird. Und das ist gut, sie muss offen bleiben und immer wieder überdacht werden.
Sisterhood is powerful – auch über die Generationen hinweg.

Die Offenheit und Flexibilität im Denken meiner Gesprächspartnerinnen beeindrucken mich. Diese Frauen wollen verändern. Angesprochen auf die generationenübergreifende Diskussion meint Lirija, die gegenwärtig an einem Studienlehrgang der feministischen Fakultät [5] teilnimmt: «Sie ist megawichtig. Warum haben so viele Projekte aus der Frauenbewegung der 1980er, -90er Jahre nicht überlebt? Wir dürfen nicht die gleichen Fehler machen.»


[1] Alle Petitionen überwiesen in der Schlussabstimmung der Frauensession 2021 finden sich hier.
[2] Werner Seitz: Fortschritte, Rückschläge und die wichtige Rolle des öffentlichen Drucks. In: Genderstudies #37, Zeitschrift des interdisziplinären Zentrums für Geschlechterforschung der Universität Bern, Herbst 2021, S. 21ff.

[3] Franziska Schutzbach (2021): Die Erschöpfung der Frauen. Wider die weibliche Verfügbarkeit.
Paula Scheidt: «Wir Frauen sind zwar in der Berufswelt angekommen, allerdings zum Preis der Erschöpfung». In: Das Magazin, Nr. 40, 9.10.2021. S. 10ff
[4] Definition in Anlehnung an: Patricia Purtschert: Es gibt kein Jenseits der Identitätspolitik, in: Widerspruch 69/17
[5] https://feministische-fakultaet.org/

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