Text & Foto: Monika Fischer
Seit Jahrzehnten setzt sich die Historikerin Heidi Witzig, 77, mit innerem Feuer und grossem Einsatz für die Frauen und ihre Geschichte(n) ein. Die Protagonistin der Frauengeschichte wurde am 4. November 2021 für ihr langjähriges Engagement mit dem Ehrendoktorat der Universität Luzern ausgezeichnet. Sie freut sich über die reiche Ernte im Herbst des Lebens. Als erfolgreiche Intellektuelle musste sie jedoch schmerzlich lernen, was es heisst, eine Frau zu sein und die eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen. Neugierig und lebenslustig setzt sich die Mitbegründerin der GrossmütterRevolution weiterhin für Projekte ein, die nicht nur anderen, sondern auch ihr etwas bringen.
(Fortsetzung)
Erstmals bin ich Heidi Witzig über das von ihr mit Elisabeth Joris herausgegebene, fast 600 Seite dicke Buch «Frauen-Geschichte(n)» begegnet. Die farbig markierten Stellen zeigen, was mich kurz nach Erscheinen des Buches 1986 beschäftigt hat. Daneben steht im Büchergestell das zweite, von den beiden Historikerinnen verfasste Buch «Brave Frauen – aufmüpfige Weiber». Schon bald nach seinem Erscheinen begegnete ich Heidi Witzig erstmals persönlich am unabhängigen Frauentreff in Willisau im Luzerner Hinterland, wo sie einen Vortrag zum Thema «Frauenbilder – Bilderbuchfrauen» hielt. Gemäss meinem im April 1993 verfassten Zeitungsbericht fand ihr Referat in der ganzen Region grosses Interesse. «Die bekannte Historikerin und Buchautorin verstand es ausgezeichnet, ihre Zuhörerinnen mit ihren lebhaften Schilderungen zu fesseln und ein Stück Frauengeschichte sichtbar zu machen», lese ich im Bericht.
Spass am Leben
Von ihrem reichen Wissen darf ich in der über zehnjährigen Zusammenarbeit in der GrossmütterRevolution immer wieder profitieren. Nach wie vor neugierig und offen für Neues scheut sich Heidi nicht, in einer Arbeitsgruppe gemeinsam Visionen zu entwickeln. Zum Beispiel darüber, wie das Leben in einer Gesellschaft aussehen würde, wenn Care (die Sorge für Mensch und Natur) anstelle des Geldes im Zentrum stehen würde. Immer wieder lässt sie sich für neue Ideen und Projekte begeistern, auch wenn sie noch so ausgefallen sind. Hauptsache, es stimmt für sie und gibt Energie.
Ausdruck ihrer Lebensfreude ist für mich das Bild in einer Broschüre zu ihrem Text übers Alter: Lachend saust sie eine Rutschbahn hinunter.
Bei unseren Begegnungen erfahren wir auch einiges über ihr bewegtes Leben. So dürfen wir teilhaben an ihrem neuen Liebesglück im Alter, wenn z.B. bei einer Zoom-Sitzung ihr Handy nicht aufhört zu klingeln, bis sie es abnimmt und sagt: «David, I’m in a meeting. I call you later.»
Offen gibt sie im Bahnhof Zürich Einblick in ihr Leben. Daten und Orte haben für sie keine grosse Bedeutung. Wichtiger sind die Erfahrungen, die ihren Lebensweg geprägt haben. «Geradeaus auf krummen Wegen. Und das in aller Heftigkeit, das gehört einfach zu mir und ist mein Lebensmotto», sagt sie lachend.
Geprägt vom Vater
Die älteste Tochter und Schwester von vier Brüdern ist in Frauenfeld in einer Bürohandels-Familie aufgewachsen. «Wir wurden sorgfältig methodistisch erzogen. Der Vater unterstützte mich in allem, was ich wollte, die Welt stand mir offen. Ich war das ,Goldschätzli’ meines Vaters. Er nannte mich ,es gschiits Meitli’ und hat mich ständig kontrolliert, sogar noch, als ich studierte.» Sie war 15, als ihr der Vater bei der ersten Abstimmung fürs Frauenstimmrecht 1959 den Zettel hinlegte mit den Worten: «Heidi, du kannst ,Ja’ schreiben.» Die Mutter hingegen, die ihre vier Brüder noch heute als Heilige verehren, lehnte sie ab. «Sie war wohl eine liebe, ruhige Frau. Doch habe ich ihre Wärme nie gespürt. Sie hat sich nie für mich gewehrt und mich nicht aufgeklärt, was Frausein bedeutet.» Heidi bedauert, dass sie sich vor ihrem frühen Tod mit 57 nicht mit ihr versöhnen konnte. Doch wollte sie ihren Weg gehen.
Aufbruch
Um sich der Kontrolle der Familie zu entziehen, heiratete sie 1969 ihren Kollegen Hans Schäppi. «Ganz traditionell im weissen Kleid, mein Orgellehrer spielte zur Hochzeit. Zuvor hatten wir uns offiziell verlobt und wie damals üblich eine Wunschliste gemacht, da wir kein Geld hatten.» Das Paar wohnte in Uetikon am See in einer 3-Zimmer-Wohnung im Dachstock einer Fabrikantenvilla. Schon drei, vier Jahre später zog der Ehemann wieder aus. «Wir wussten in keiner Art und Weise, wie eine Partnerschaft gepflegt wird. In der antiautoritären Bewegung wollte vor allem mein Mann alles ausprobieren. Auch ich habe Fehler gemacht, jedoch an Ehe und Treue geglaubt.»
Gleichzeitig engagierte sie sich in der Frauenbefreiungsbewegung FBB. «Ich war in den wilden Aufbruchszeiten bei allen Aktionen dabei. Ganz wichtig war für mich die Selbsterfahrungsgruppe. Wir erzählten uns gegenseitig unsere Geschichten und konnten unsere Unsicherheiten als Frau erstmals benennen.»
Um die Einführung des Frauenstimmrechts kümmerte sie sich nicht. Es war für sie derart «gschämig» und überfällig. Es ging ihr um viel mehr: «Um die patriarchalen Strukturen, die verhinderten, dass die Frauen in der Geschichte gar nicht vorkommen.»
Nach Annahme des Frauenstimmrechts 1970 im Kanton Zürich trat Heidi der SP bei und kam durch eine Kampfwahl in die Schulpflege Uetikon.
Familie und Politik
Sie blieb ein paar Jahre in der Gemeinde und lernte in dieser Zeit Ruedi Vetterli kennen. Erst als sie schwanger war, realisierte sie, dass ihr Kind «Schäppi» heissen würde - und liess sich scheiden. 1979 wurde Tochter Verena geboren. Zuerst wohnte die Familie in Uster in einer WG in einer grossen Mansardenwohnung, später mit einer anderen dreiköpfigen Familie in einer WG in einem Haus. Sie liess sich sofort in den Gemeinderat wählen. «Die Partei suchte damals händeringend Frauen, auch fürs Parlament in Bern. Doch merkte ich bald: Der parlamentarische Weg ist nicht gut für mich. Ich höre nach links und nach rechts, möchte lieb sein und nicht anecken. So blieb ich im Gemeinderat.»
«Frauengeschicht(en)» - ein Riesenerfolg
Während ihres Geschichts-Studiums an der Uni Zürich hatte sie das Hauptfach gewechselt und ihr Doktorat mit einer kunstgeschichtlichen Analyse des 15. Jahrhunderts zum Thema «Die Florentiner Bürger und ihre Stadt» mit Summa cum laude abgeschlossen. Da sie für diese Arbeit oft in Florenz war, sprach sie gut Italienisch. Deshalb unterrichtete sie während des Studiums die Fächer Geschichte, Staatskunde und Italienisch. Doch wurde ihr der Abschluss als Kunsthistorikerin später zum Verhängnis; sie konnte nicht als Geschichtslehrerin an Mittelschulen gewählt werden. Deshalb arbeitete sie in der Galerie Koller als Kunstexpertin und kam nach einer entsprechenden Ausbildung als Dokumentalistin zum Schweizer Fernsehen.
Während der Arbeit an einem Buch über die Schweizer Arbeiterbewegung entschloss sie sich 1978, gemeinsam mit Elisabeth Joris ein Parallelbuch zur Frauengeschichte herauszugeben. «An der Uni gab es viele engagierte Feministinnen, die mitmachten und uns unterstützten. Es war ein riesiges Gemeinschaftsprojekt. Alles in Gratisarbeit, wir hatten ja daneben unseren Lohn.» Das Buch «Frauengeschicht(en): Dokumente aus zwei Jahrhunderten zur Situation der Frauen in der Schweiz» kam 1986 im Limmatverlag erstmals heraus und wurde ein Riesenerfolg. (Im Juni 2021 ist es in fünfter aktualisierter Auflage im Limmat-Verlag erschienen.)
Ein, zwei Jahre später bekamen die beiden Historikerinnen Geld vom Nationalfonds für das zweite Buch «Brave Frauen, aufmüpfige Weiber, Frauenalltag im Kanton Zürich». «Es erschien 1992 und wurde wieder ein Hit. Wir wurden in der ganzen Deutschschweiz eingeladen, Vorträge zu halten und Artikel zu schreiben», freut sie sich rückblickend.
Bald erreichte sie die Anfrage eines Professors der Uni Basel, an einem gross angelegten Projekt über die Alltagsgeschichte der Schweiz mitzumachen und sich damit zu habilitieren. Sie bekam einen Arbeitsplatz an der Uni und reichte beim Nationalfonds ein Teilprojekt ein. Das Buch «Polenta und Paradeplatz: Regionales Alltagsleben auf dem Weg zur modernen Schweiz 1880-1914», erschienen 2000 bei Chronos in Zürich, war das einzige Ergebnis des gross angelegten Forschungsprojektes. «Es war mein Paradestück. Doch wollte ich mich nicht habilitieren, sondern bei der Forschung bleiben.»
Wer bin ich als Frau?
Heidi war fast 50, als sie sich diese Frage stellte. «Seit dem Gymi kam ich als Frau gut an, ich hatte Erfolg als Historikerin und Politikerin, konnte immer hinstehen für das, was mir wichtig war. Intellektuell hatte ich mich zwar mit Frauenthemen auseinandergesetzt, dabei jedoch mein eigenes Frausein aus den Augen verloren und mich nie um meine körperlichen Bedürfnisse gekümmert. Erst jetzt hatte ich die Sicherheit, diese Frage zu stellen.»
Sie besuchte die Liebesschule bei Doris Christinger, wo sie sich und andere besser kennenlernte. «Erst dann bin ich aufgewacht. Wir waren im Frauentantra, weil wir bedürftig waren und bekamen endlich Freude an der Sexualität.» Allerdings wurde ihr auch klar, dass ihr Partner sie seit Jahren betrügt. Es war ein furchtbarer Schlag, gleichzeitig wusste sie: «Wenn ich es positiv nehmen kann, wird es für mich zu einer Chance werden, indem ich mich frage: Wer bin ich, dass ich es nicht gemerkt habe? Es lag an mir, an meiner Entwicklung. Die schmerzliche Erfahrung und die daraus gewachsene Erkenntnis waren nötig für meine Entwicklung als Frau. Es war mein Stern, dem ich folgen wollte.»
Begleitung bis zum Tod
Sie blieb trotzdem bei ihrem Partner, weil sie ihn liebte. Es wurde ihr bewusst, wie vieles sie bisher den Männern überlassen, auch in der Sexualität keine Verantwortung für sich übernommen hatte und damit abhängig war. Eine überaus schmerzhafte Erkenntnis. Sie erzählt: «Ich konnte nicht mit und nicht ohne meinen Partner und den gemeinsamen Freundeskreis leben. Ich war verletzt, immer wieder neue Wunden kamen dazu. Es war ein überaus schmerzhafter Prozess. Ohne jahrelange Psychotherapie hätte ich es nicht ausgehalten.»
Doch merkte sie mit der Zeit: Es ist nicht gut für mich, wenn ich bleibe - und sagte ihrem Partner: «Ich nehme eine eigene Wohnung, doch wir bleiben befreundet, egal, was du tust.»
In der gleichen Woche bekam er die Diagnose: Lungenkrebs.
Heidi verliess ihn nicht, sondern begleitete ihn bis zum Tod. Sie schildert die schmerzlichsten sieben Monate ihres Lebens: «Ich war enorm empfindlich und habe häufig geweint. Unglaublich, wie glücklich und befreit Ruedi war, als er wusste, dass er stirbt. Wir haben sogar noch geheiratet. Es tröstete mich, dass er so gehen konnte, wie er wollte.»
Seit dem Tod ihres Mannes 2003 beschäftigt sich Heidi Witzig freischaffend mit Themen, die sie interessieren. 2007 erschien ihr Buch «Wie kluge Frauen alt werden». Sie schreibt Artikel, hält Vorträge. «Ich habe ein richtiges Business aufgebaut und gebe weiter, was ich gelernt habe. Der Austausch ist enorm belebend.»
Wo das Feuer ist
Seit Beginn macht Heidi Witzig bei der GrossmütterRevolution mit. «Es gefällt mir, nochmals auf attraktive Art als Teil der Zivilgesellschaft und ohne Sorge ums Geld aktiv zu werden. Der Austausch und die Zusammenarbeit mit Frauen mit langem professionellem Hintergrund ohne Konkurrenzdenken sind sehr belebend. Sei es bei politischen Projekten im Einsatz für ein würdiges Alter oder wenn es darum geht, neue Themen auf neue Art zu entdecken.» Sie lässt sich begeistern für Frauenthemen und Fragen rund ums Alter und engagiert sich «wo mein Feuer ist, wenn ich mich dabei einerseits für mich und gleichzeitig für andere einsetzen kann.» Es kam auch vor, dass sie sich für eine Sitzung entschuldigen musste, weil sie mit Freude ihre beiden Enkelkinder hütete.
Neue Liebe im Alter
Obwohl ihr Leben ruhiger geworden ist, gibt es immer wieder Überraschungen. Sie erzählt von ihrer Jugendliebe David aus Irland, der sie vor ein paar Jahren nach dem Tod seiner Frau im Internet gesucht und wieder gefunden hat. Die Begegnung freute sie. Doch liess sie sich Zeit, bis sie es wagte, sich noch einmal ernsthaft auf eine Liebesbeziehung einzulassen. Der Plan, sich regelmässig zu sehen - ein paar Wochen gemeinsam abwechselnd in Irland und in der Schweiz zu verbringen – wurde durch die Pandemie durchkreuzt. So kommunizierten sie drei- bis viermal täglich über Facetime, was die Isolation erleichterte. «Wir verstehen uns sehr gut und haben die gleiche Sorte Humor. Es ist interessant mit ihm, er weiss sehr viel über Literatur und Geschichte. Es ist eine grosse, eine schöne Liebe.» Sie sind sich bewusst, dass sie kaum bis zum Tod beisammen sein können. «Wir reden immer wieder darüber - das nimmt der Realität den Schrecken - und geniessen die Zeiten des Beisammenseins umso mehr.»
Würdigung der Pionierinnen
So auch bei der Auszeichnung zur Ehrendoktorin am 4. November 2021 an der Universität Luzern. Wichtiger als die offizielle Zeremonie ist Heidi ihr Referat «Ansichten und Aussichten von Frauengeschichten» vor der ganzen Fakultät, auf das sie sich gründlich vorbereitet hat. Es ist für sie die Verbindung der Uni mit der ausser universitären Forschung und Zivilgesellschaft, eines ihrer Kernthemen.
Im Rückblick auf das Jubiläumsjahr «50 Jahre Frauenstimmrecht» bedauert sie, dass manche Veranstaltungen wegen Covid nicht stattfinden konnten. Gleichzeitig ist sie begeistert über die in diesem Jahr entstandenen Vernetzungen zwischen vielen bewegten Menschen, zwischen den Generationen, Gewerkschaften, Studierenden usw. usw. «Besonders überrascht und gefreut hat mich, dass die jungen Frauen würdigen, wofür wir früher hingestanden sind und dazu erst noch danke sagen. Unglaublich, diese vielen Zeichen der Solidarität! So hat das Jubiläum doch noch eine Wendung gebracht und das Bestmögliche erreicht.»
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