Schliessen

Chancengleichheit für alle

Text & Foto: Monika Fischer

Die Pionierinnen des Frauenstimmrechts sind für Ylfete Fanaj Vorbilder, die sich beharrlich für ihre Anliegen einzusetzen. Sie lebte im Kosovo, während der Vater als Saisonnier arbeitete. Mit neun Jahren kam sie in die Schweiz und fand sich in der Schule schnell zurecht. Die Benachteiligung als Migrantin bei der Suche nach einer Lehrstelle hat sie politisiert. Nach fast 15 Jahren in Parlamenten wurde sie als Vertreterin der SP zur ersten Kantonsratspräsidentin mit kosovarischen Wurzeln gewählt. Wie sie im Gespräch aufzeigt, möchte sie Migrant*innen eine Stimme geben und ihnen den Zugang zu Bildung und Arbeit erleichtern.

Monika Fischer: Sie kamen mit neun Jahren im Familiennachzug aus dem Kosovo in die Schweiz. Welche Rollenbilder haben Sie geprägt?

Ylfete Fanaj: Ich bin in einer traditionellen Familie aufgewachsen: Die Frau besorgt im Dienst der Familie den Haushalt, der Mann geht hinaus und verdient das Geld. Ich habe mich immer gegen diese Rollenbilder gewehrt und einen Widerstand gegen diese Einteilung aufgebaut. Ich konnte nicht nachvollziehen, warum Frauen und Männer nicht die gleichen Rechte und Freiheiten haben sollten. Deswegen gab es mit den Eltern viele Diskussionen. Es war ein langer Weg, bis sie akzeptiert haben, wie ich bin.

Wo haben Sie in ihrem Leben Benachteiligung erfahren?

Die Sprache habe ich relativ schnell gelernt. Nach dem 9. Schuljahr fand ich keine Lehrstelle als Kauffrau, und so habe ich das 10. Schuljahr absolviert. Auf 200 Bewerbungen, die ich damals noch von Hand schreiben musste, bekam ich nur Absagen ohne Begründung. Das hat mich sehr belastet, ich mochte die Post kaum mehr anschauen. Schliesslich bekam ich von der Sprachschule ECAP die Einladung zu einem ersten Vorstellungsgespräch und zum Schnuppern. Nachträglich habe ich erfahren, dass sie mich einer Schweizerin vorgezogen haben, weil ich sonst keine Chance gehabt hätte, eine Lehrstelle zu finden.

Was hat Sie für die Politik motiviert?

Während meiner Ausbildung interessierte ich mich für Staatskunde. Da wurde mir bewusst, dass ich als Migrantin nicht mitbestimmen kann. Auch für einen zweiwöchigen Sprachaufenthalt im Ausland fehlte mir der Pass. Ich wusste: Ich komme beruflich nicht weiter, wenn ich mich nicht einbürgern lasse und meldete mich sofort an. Mit 20 bekam ich den Schweizer Pass. Im Zusammenhang mit der erleichterten Einbürgerung von jungen Ausländer*innen der zweiten Generation 2004 begann ich mich politisch bei der SP zu engagieren. Es ist mir ein Anliegen, Hürden, wie ich sie selbst erlebt hatte, abzubauen, den Migrant*innen eine Stimme zu geben und ihnen den Zugang zur Bildung zu erleichtern. Es geht mir um Chancengleichheit für alle.

Sie haben berufsbegleitend die Berufsmatura gemacht und danach an der Hochschule Luzern das Studium in Sozialer Arbeit mit dem Master abgeschlossen. Daneben haben Sie sich politisch engagiert. Sie wurden Grossstadträtin, die erste Kantonsrätin mit kosovarischen Wurzeln, Fraktionschefin der SP-Fraktion und präsidierten 2020/21 das Kantonsparlament Luzern.

Wo es eine Chance gab, habe ich sie gepackt, bin ins kalte Wasser gesprungen und habe hart gearbeitet. Wohl habe ich mich immer wieder hinterfragt und zweifelte manchmal an mir. Andere haben mich ermuntert und unterstützt. Mir wurde bewusst: Ich muss nicht alles können. Wichtig ist, die richtigen Leute um mich zu haben.

Wie und warum kamen Sie dazu, sich als junge Frau für das Jubiläum «50 Jahre Frauenstimmrecht» zu engagieren?

Als Vizepräsident des Kantonsrats überlegte ich mir, wie ich mein Präsidialjahr gestalten will. Da es mit dem Jubiläum «50 Jahre Frauenstimmrecht» zusammentraf, war mir klar: Dort wollte ich einen Schwerpunkt setzen. In Zusammenarbeit mit dem Historischen Museum wollten wir ein zivilgesellschaftliches Rahmenprogramm zur Ausstellung «Eine Stimme haben» auf die Beine stellen. Ich suchte Frauen aus verschiedenen Parteien, und wir gründeten einen Verein. Wir leisteten im Vorstand unsere Arbeit ehrenamtlich, engagierten jedoch eine Projektleiterin. Mit einer breiten Palette von 35 geplanten Veranstaltungen vom September 2020 bis September 2021 haben wir viele Frauen erreicht und das Ziel weit übertroffen.

Ihr Jahr als Präsidentin des Kantonsrates Luzern und des Vereins «50 Jahre Frauenstimmrecht Luzern» wurde durch die Pandemie getrübt.

Ich konnte rasch akzeptieren, dass mein Präsidialjahr nicht im gewohnten Rahmen stattfinden konnte, da Repräsentationspflichten ohne Anlässe fehlten. Doch machte ich das Beste daraus. Da ich nicht zu den Menschen gehen konnte, lud ich zu jeder Session einen Gast ein: Eine aus Syrien geflüchtete Person, ein Mensch mit einer Beeinträchtigung, ein Kind vom Jugendparlament usw.. Ich wollte ihnen eine Stimme geben und verband ihre Anliegen mit den kantonalen Leistungen. Auch einige der geplanten Anlässe rund um das Frauenstimmrecht mussten wir absagen. Es war ein grosses Glück, dass wir die Jubiläumsveranstaltung im Oktober 2020 mit einer reduzierten Zahl von Besucherinnen durchführen konnten. Es war eine meiner schönsten Veranstaltungen mit einer wunderbaren Stimmung.

Was sind Ihre Erkenntnisse aus dem Jubiläumsjahr?

Die Auseinandersetzung mit der Geschichte der letzten 50 Jahre haben mir gezeigt, dass die Frauen ihre Rechte hart erkämpfen mussten. Wie diese Pionierinnen ist es mir wichtig, dranzubleiben an dem, was mir wichtig ist, mich wenn möglich überparteilich mit anderen zu verbinden und immer wieder neue Anläufe zu nehmen.

Wo sehen Sie den dringendsten Handlungsbedarf?

Die Strukturen unserer Wirtschaft und Politik sind durch Männer ohne Familienpflichten dominiert. Frauen mit Familienpflichten müssen dauernd strampeln um mitzukommen. Dies zeigt, wie tief die traditionellen Rollenbilder verinnerlicht sind. Das müssen wir verändern. Neben einer besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie und Lohngleichheit sind mir besserer Bildungschancen und damit verbunden ein erleichterter Arbeitszugang für Migrant*innen zentrale Anliegen. Die Gleichstellungsthemen sind mir wohl wichtig, betreffen jedoch privilegierte Frauen. Im Hinblick auf die Chancengleichheit braucht es dringend bessere Rahmenbedingungen auch für Migrant*innen.

Vor dem Abschluss Ihres Präsidialjahres sind Sie erstmals Mutter geworden.

Das passt zu diesem verrückten Jahr und ist für uns ein grosses Glück.

Sie wurden als Vertreterin der Zentralschweiz als eine der 246 Teilnehmerinnen der zweitägigen Frauensession vom 29./30. Oktober in Bern gewählt. Was möchten Sie dort einbringen?

Ich freue mich sehr auf die Versammlung und bin gespannt auf die Diskussionen.
Mein besonderes Interesse gilt der Digitalisierung. Es ist ein wichtiger Bereich für die Zukunft, sind doch dort nur knapp ein Fünftel Frauen tätig. Deshalb müssen wir uns jetzt einbringen, damit wir die künftige Ausrichtung mitbestimmen können. Ich hoffe sehr, dass wir klare Forderungen stellen und diese vom Parlament aufgenommen werden, damit die Frauensession mehr wird als ein symbolischer Akt.


Ylfete Fanaj
Ylfete Fanaj

Ylfete Fanaj, 39, Luzern, war die erste Kantonsrätin in der Schweiz mit kosovarischen Wurzeln.
Nach dem Studium der Sozialarbeit arbeitete sie auf der Fachstelle Gesundheitsförderung und Integration, Kanton Nidwalden. In der Folge erwarb sie einen Master of Science of Social Work der Hochschulen Bern, Luzern, St. Gallen und Zürich. Aktuell arbeitet sie als Bereichsleiterin Deutschschweiz beim Jugendprojekt LITFT in Bern, einem Integrations- und Präventivprogramm für Jugendliche mit erschwerter Ausgangslage an der Nahtstelle zwischen Schule und Beruf.
Ihre politische Karriere begann sie beim Verein für Secondas. 2007 kam sie als Vertreterin der SP in den Grossstadtrat Luzern. 2011 wurde sie die erste Schweizer Kantonsrätin mit kosovarischen Wurzeln. In ihrer dritten Amtsperiode präsidierte sie die SP-Fraktion im Kantonsparlament. 2019 wurde sie zur Vizepräsidentin, 2020 zur Präsidentin des Kantonsrates für die Periode 2020/21 gewählt. Ylfete Fanaj ist in verschiedenen Vereinen im sozialen Bereich aktiv, z.B. im Verein LISA für die Interessen der Sexarbeitenden und im Verein Zentrum für interkulturelle Bildung ZIB sowie Beirätin der Kontakt- und Anlaufstelle Sans-Papiers Luzern.

Wir verwenden Cookies und ähnliche Technologien, um das Nutzererlebnis auf unserer Website zu verbessern. Durch die weitere Nutzung dieser Website stimmen Sie unserer Verwendung von Cookies und ähnlichen Technologien zu. Mehr erfahren