Text & Foto: Marie-Louise Barben
Frieda ist eine stille Heldin, die Heldin einer vergangenen Zeit. Sie hat ihr ganzes Leben in den Dienst anderer gestellt. Frieda Bärtschi kam 1949 als Dienstmädchen – so sagte man damals – in die Familie Häni, meine Herkunftsfamilie. Das war kurz vor ihrem 20. Geburtstag. Im Jahr 2001, nachdem meine Eltern ins Altersheim gewechselt hatten, bezog sie zum ersten Mal in ihrem Leben eine eigene Wohnung. - Meine Eltern waren nie per du mit Frieda, und auch wir vier Kinder sind es bis heute nicht.
Sie habe ein gutes Leben gehabt, sagt sie, die am Erscheinungsdatum dieses Newsletters ihren 92. Geburtstag feiern wird.
(Fortsetzung)
Aber beginnen wir von vorne. Frieda ist 1929 in Burgistein geboren, einem kleinen Dorf am Talhang des Gürbentals. Die Geschwister Rosa, Frieda, Hedi, Ernst, Fritz und Franz wachsen in einer einfachen Familie auf, die genau aufs Geld schauen muss. Der Vater ist Maschinist in einem Sägewerk, die Mutter hat alle Hände voll zu tun mit den sechs Kindern. Ihr Sorgenkind ist der an Kinderlähmung erkrankte und geistig behinderte Franz.
An ihre Kindheit hat Frieda wenig Erinnerungen. Neun Jahre besucht sie die Primarschule in Burgiwil. Sie sei keine gute Schülerin gewesen, sagt sie. Sie mochte die Schule auch nicht besonders und war viel krank. Ich frage Frieda nach Ihrem Berufswunsch nach Abschluss der obligatorischen Schule.
«Das war kein Thema», sagt sie, «für die Mädchen suchte man eine Stelle in einem Haushalt, für die Buben auf einem Bauernhof oder in einem Handwerksbetrieb». Keines der Bärtschi-Kinder kann eine Berufsausbildung machen. Frieda kommt auf einen grossen Bauernhof, der von zwei Familien mit insgesamt neun Buben bewirtschaftet wird. Dazu kommen Knechte, Mägde und Hilfspersonal. Kein Zweifel, dass es da viel zu tun gibt im Haushalt, in der Küche, beim Härdöpfele auf dem Feld. Aber, so vermute ich, herrschte auch ein raues Klima.
Jedenfalls lässt die mittlerweile in Unterseen bei Interlaken verheiratete Schwester Rosa ein Inserat im Amtsanzeiger erscheinen. Wie es wohl gelautet hat? «Junge kräftige Tochter sucht Stelle in Haushalt» vielleicht…
Familie Häni sucht ein neues «Meitschi»
Meine Mutter hatte immer eine Hausangestellte sowie im ersten Halbjahr nach der Geburt eines Kindes auch eine Säuglingsschwester. So war das damals bei uns. Ich mag mich an Bethli erinnern, an Gisela, Martha und an Rösi. Aber gerade mit letzterer war meine Mutter nicht zufrieden. Sie konnte nicht handarbeiten und ihre Hygiene liess zu wünschen übrig. So kam es, dass die Säuglingsschwester, die seit der Geburt unseres Bruders im Haus war, auf das Inserat aufmerksam wurde. Der Kontakt zu Frieda Bärtschi wurde aufgenommen.
Am 31. Juli 1949 bringt Vater Bärtschi Frieda in Burgistein auf den Zug. Fräulein Bärtschi stellt sich bei meiner Mutter vor. Sie werden sich einig und am nächsten Tag fängt Frieda an.
Alltag
Wir wohnten damals in Interlaken in einem dreistöckigen Jugendstilhaus mit Garten. Das Haus verfügte über neun Zimmer und mehrere Nebenräumlichkeiten. Frieda wohnte in einem kleinen Zimmer im zweiten Stock. Meine Mutter war gelernte Haushaltungslehrerin und hatte genaue Vorstellungen, wie ein Haushalt geführt werden musste. Für Frieda muss das alles am Anfang sehr einschüchternd gewesen sein. «Als Frau Häni mir am ersten Tag zu verstehen gab, dass ich in der Küche essen müsse, dachte ich: Da werde ich nicht lange bleiben.»
Aber Frieda bleibt. Sie lernt kochen, backen, putzen, einkaufen, abrechnen – alles nach den Vorschriften meiner Mutter, die selber keine täglichen Hausarbeiten verrichtet. Zum Hilfspersonal gehören auch eine wöchentliche Putzfrau und, wenn drei-, viermal im Jahr grosse Wäsche ist, werden zusätzlich eine Wäscherin und eine Glätterin eingestellt. Frieda ist von früh bis spät auf den Beinen. Sie schaut auch zu uns Kindern, wenn die Eltern in die Ferien fahren und weiss dieses Vertrauen zu schätzen. Sie kennt unsere Schulfreundinnen und die Nachbarskinder, die bei uns aus und ein gehen. «Frieda», frage ich vorsichtig, «was haben Sie damals verdient?» Genau erinnern mag sie sich nicht, aber sie meint, so 80.- bis 150.- pro Monat am Anfang. Ich schaue entsetzt. «Aber ich habe ja auch nicht viel gebraucht», fügt sie bei. Natürlich stieg Friedas Lohn im Lauf der Jahre und an Weihnachten gab es jeweils einen grosszügigen Bonus. Aber tatsächlich hatte mein Vater keine Ahnung von den täglichen Lebensunterhaltskosten. Er teilte meiner Mutter ein grosszügiges Haushaltgeld zu und sie hielt alle Ausgaben in einem Haushaltbuch fest, das mein Vater aber nie kontrollierte. Sie wiederum teilte Frieda das Einkaufsgeld zu und diese musste nach jedem Einkauf auf den Fünfer genau abrechnen.
Privatleben
«Sie waren jung, kräftig, gesund, eine lebenslustige Frau – hatten Sie nie den Wunsch zu heiraten, Kinder zu bekommen, eine Familie zu gründen?», frage ich. Es gab diese eine Bekanntschaft mit dem Sohn der Glätterin. Daran mag ich mich erinnern. Aber Frieda winkt ab. «Daraus ist nichts geworden.» Sie sei gar nicht dazu gekommen, sich Gedanken darüber zu machen: «Es gab viel zu tun und ich habe immer gern gearbeitet.» Ich frage nach: «Hätten Sie sich nicht etwas mehr Freiheit, mehr Selbständigkeit gewünscht?» «Nein», sagt sie, «ich habe nichts verpasst.»
Frieda hatte damals am Mittwoch- und am Sonntagnachmittag frei, drei vier Stunden vielleicht. Sie musste ja nach dem Mittagessen erst das Geschirr spülen und die Küche aufräumen. Und sie musste rechtzeitig zurück sein, damit sie das Abendessen vorbereiten konnte. Verspätete sie sich einmal, war meine Mutter ungehalten. Ferien? Vielleicht zwei Wochen im Jahr. Meist ging sie nach Burgistein zur Mutter. Ein paarmal zahlten meine Eltern ihr eine mehrtägige Carfahrt ins nahe Ausland – Italien, Deutschland, Österreich – und einmal in ihrem Leben machte sie drei Wochen Ferien in Holland.
Umzug nach Bern
Im Januar 1958 zieht meine Familie in ein neu erstelltes Einfamilienhaus in Bern. Ich nehme nicht an, dass man mit Frieda über den Ortswechsel diskutiert hat. Es war für beide Seiten selbstverständlich, dass sie dabei war. «War nie davon die Rede, dass Sie bei der Familie Häni arbeiten, aber auswärts wohnen?», frage ich Frieda. Offenbar war das mal ein Thema, aber «nein, das wollten Hänis nicht», sagt Frieda und damit war die Sache erledigt.
Frieda lebt sich schnell ein in der neuen Umgebung. Sie lernt die Stadt und die neuen Einkaufsmöglichkeiten kennen, wobei meine Mutter vorschreibt, wo eingekauft werden soll; Migros und Coop sind lange Zeit tabu. Anstatt die Frauen vom Gemeinnützigen Frauenverein Interlaken, kommen nun die Stickfrauen und die Rotarydamen zu Besuch. Letztere zu einem guten Zweck: Sie stellen Kleider instand für ein Kinderheim. Frieda bereitet das Zvieri zu, backt Züpfe, Tartelettes, Cake und Brioches. «Manchmal waren 14 Frauen gleichzeitig da», erinnert sie sich. Manchmal geben die Eltern auch grössere Einladungen. Die Anekdote, wie Bundesrat Gnägi Aprikosenmousse auf die Fleischpastete löffelte, weil er glaubte, es sei Mayonnaise, ist fester Bestandteil des Familienrepertoires.
Mittlerweile sind wir vier Kinder ausgezogen, aber schon bald kommen die ersten Enkelkinder. Alle schliessen sie Frieda ins Herz. Ich erinnere mich gut, dass Frieda immer ein bisschen stolz war, wenn ich meine Kinder nach einem Besuch bei den Grosseltern abholte und sie sagten: «Mir wei bim Frieda blibe.»
Bärner Chötti
Frieda liest im «Anzeiger» eine Notiz über einen Verein für Alleinstehende. Das muss Mitte der 1970er Jahren gewesen sein. Eines Nachmittags macht sie sich auf den Weg, geht einige Male vor dem Treffpunkt auf und ab, bevor sie sich hineinwagt. Das ist der Anfang ihrer Freiwilligen-Karriere. Bald wird sie nämlich ein wichtiges und bis heute unentbehrliches Mitglied des Vereins Bärner Chötti. «Anfangs», so sagt sie, «habe ich an den Abendveranstaltungen nicht teilgenommen, weil ich nicht rechtzeitig dort sein konnte.» Denn sie verlässt das Haus nicht, bevor die Küche aufgeräumt, alle Storen heruntergelassen, alle Fensterläden geschlossen sind und der Abendtee für die Eltern bereit steht. Mit der Zeit habe sie mehr frei bekommen. Nun geht sie auf Sonntagsausflüge oder veranstaltet selbst welche. Für die monatlichen Geburtstagsfeiern backt sie Lebkuchenherzen, immer ein paar mehr als nötig. Diese verkauft sie und investiert den Erlös in den Einkauf für die bald üblich werdenden und sehr beliebten Risottoessen.
Frieda hat sich ein eigenes Netz geschaffen, denn viele Vereinsmitglieder werden mit der Zeit gute Bekannte, mit denen sie sich auch ausserhalb des Vereins trifft. Den Männern gegenüber ist sie zurückhaltend. «Verehrer» gab es schon, aber sie sei nicht interessiert gewesen, sagt sie.
Meine Eltern tolerieren die Aktivitäten von Frieda wohlwollend; mein Vater unterstützt sie explizit, für meine Mutter ist nach wie vor wichtig, dass Frieda zur Verfügung steht. Aber auch sie wird mit der Zeit grosszügiger.
Übergangszeit
Im Jahr 1999 wird Frieda 70 Jahre alt. Sie ist weit über das AHV-Alter, damals 62 für Frauen, hinaus. Meine Mutter ist 88, mein Vater 94 Jahre alt. Beide sind auf Unterstützung angewiesen. Im Laufe des Jahres 1998 war der Vater auf Anraten des Hausarztes in ein Altersheim verlegt worden. Die Pflege konnte meiner Mutter und Frieda nicht mehr zugemutet werden. Die beiden Frauen verbringen noch mehr als ein Jahr zusammen im Einfamilienhaus. Es ist ein fragiles Verhältnis zwischen den beiden. Nach wie vor ist Frieda die Hausangestellte, aber längst ist sie diejenige, die den Alltag organisiert und am Laufen hält. Anfang 2000 zieht auch meine Mutter (sehr ungern) zu ihrem Mann in die komfortable Wohnung im Elfenaupark.
Ziemlich genau 40 Jahre sind vergangen seit dem Einzug ins Haus in Bern. Nun wird es verkauft und muss geräumt werden. Das obliegt uns Nachkommen, aber immer mit Friedas Hilfe. Gleichzeitig erbringt sie noch Dienstleistungen für die Eltern: Sie besorgt die Wäsche, kauft ein, was sie brauchen, macht Botengänge und kocht ab und zu für sie abends. Anfang 2002 sterben meine Eltern kurz nacheinander. Mein Vater hat in seinem Testament eine Rente für Frieda ausgesetzt und uns verpflichtet, sie bis zu ihrem Tod zu begleiten.
Eine eigene Wohnung
Mit 72 Jahren bezieht Frieda ihre erste eigene Wohnung. Sie liegt keine fünf Minuten vom früheren Dienstort entfernt. In Friedas Wohnzimmer stehen ein Buffet mit Vitrinenaufsatz und ein paar Gobelinstühle aus dem Haus der Häni-Familie. Auch eine Porzellanfigur und einige Bilder und Ziergegenstände erinnern an mein früheres Elternhaus. Frieda, die bis jetzt noch nie allein gelebt hat, kennt bald einige Leute im Wohnblock, darunter eine Frau, die auf Unterstützung angewiesen ist. Diese hat zwar einen Beistand, aber der verlässt sich lieber auf Frieda. Dafür nennt er sie beim Weihnachtsapéro für die Freiwilligen seinen «Goldschatz»! Und weist ihr gleich noch eine weitere Kundin zu: Frieda besucht nun auch jede Woche die hundertjährige Frau Loosli bis zu deren Tod.
Heute hat sie keine Schützlinge mehr, aber für die Bärner Chötti backt sie noch immer.
Zufrieden mit dem Leben
Meine Eltern, wir alle, haben über Frieda verfügt, über ihre Zeit, über ihre Erwartungen – indem man sie gar nie danach gefragt hat - und trotzdem sagt sie heute mit Überzeugung: «Ich habe ein gutes Leben gehabt, die Häni-Familie war auch meine Familie.» Ja, es stimmt, Frieda ist ein Teil unserer Familie. Es ist selbstverständlich, dass sie bei jedem Familienanlass dabei ist. Mit Interesse verfolgt sie unsere Lebenswege und diejenigen unserer Kinder und Kindeskinder, deren Urgrossmutter sie sein könnte. Kein schlechtes Wort fällt über unsere Eltern. Sie sei von allen immer gut behandelt worden. Und tatsächlich mag ich mich nicht an Streitigkeiten zwischen meinen Eltern und Frieda erinnern.
Für unser Gespräch hat Frieda sich schön angezogen. Gerade setzt sie sich hin und schaut unerschrocken in die Kamera. Wie bewundernswert ist doch ihre Mischung aus Bescheidenheit, Lebensklugheit, Dankbarkeit und Pragmatik dem Leben gegenüber
Wir verwenden Cookies und ähnliche Technologien, um das Nutzererlebnis auf unserer Website zu verbessern. Durch die weitere Nutzung dieser Website stimmen Sie unserer Verwendung von Cookies und ähnlichen Technologien zu. Mehr erfahren