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Damals Frauenbefreiung, heute LGBTQIA+

Marie-Louise Barben

Im Februar 2001, vor gut 20 Jahren also, habe ich mich nach 10 Jahren Gleichstellungsarbeit bei der Fachkommission für Gleichstellungsfragen mit einem Referat verabschiedet. Der Titel lautete «Von der lila Frauenbewegung zum coolen Gender Mainstreaming». Ich machte mir Gedanken über die Begrifflichkeit und über die dahinterstehenden Inhalte in der Gleichstellungsarbeit.

Von der Befreiung weit entfernt
In den späten 1960er Jahren bildeten sich in den USA und England, dann auch in Deutschland und in der Schweiz Gruppen der Frauenbefreiungsbewegung. Frauenbefreiung - was für ein übermütiges Wort. Vor meinem inneren Auge sehe ich Frauen mit imaginären Flügeln.
In den 1970er, -80er Jahren war es dann die Neue Frauenbewegung, die sich sichtbar und hörbar artikulierte. Es waren Frauen, die BHs verbrannten, gegen die Versklavung durch Hausarbeit und Mutterschaft demonstrierten und für die Befreiung der Sexualität und das Recht auf den eigenen Bauch. Die Welt sollte verändert werden und zwar subito.
Mit der Annahme des Verfassungsartikels Gleiche Rechte für Mann und Frau im Jahr 1981 wurden die gleichen Rechte für beide Geschlechter verankert. Sie sind ein unabdingbarer Schritt, aber schon bald wurde klar: Gleiche Rechte sind nicht genug. Bildungsverläufe, Lebenserfahrungen und -situationen von Frauen und Männern sind derart unterschiedlich, dass sich, wenn wir Männer und Frauen gleich behandeln, die Ungleichheit fortsetzt, ja verschärft.
Nun kam der Begriff der Frauenförderung auf. Er war umstritten. Gewisse Frauen empfanden Frauenförderung als diskriminierend. Sie hätten es nicht nötig, gefördert zu werden. Ich argumentierte jeweils: Wirtschaftsförderung, Sportförderung, Begabtenförderung haben keinen negativen Beigeschmack – im Gegenteil: Es sind Bereiche, in die es sich zu investieren lohnt.

Was ist das Eine?
Es folgte eine Phase des ‘anders’. Frauen lernen anders, Frauen führen anders, Frauen schreiben anders. Das traf oder trifft möglicherweise zu, ist aber auch ein Stolperstein: Denn jede Beschreibung dieses ‘anderen’ läuft darauf hinaus, etwas zu festzumachen und als weiblich zu erklären. Wie oft ist dabei nur herausgekommen, dass Frauen über mehr soft skills verfügen als Männer.
Und wer oder was ist das EINE, wenn die Frauen das andere sind? Das hat uns Simone de Beauvoir schon im Jahre 1949 auf tausend Seiten erklärt.[1]
In den späten 1980er und Anfang der 1990er Jahre stand die Bezeichnung Gleichstellung von Frau und Mann im Vordergrund, präzisiert als rechtliche und tatsächliche Gleichstellung. Denn als der Verfassungsartikel 1981 in Kraft getreten war, stellte sich bald die Frage nach dessen operativer Umsetzung. Gleichstellungsbüros, also staatliche Stellen, kamen ins Gespräch.

Es gibt keine aktive Frauenbewegung mehr
In meinem Referat von 2001 beklagte ich den Backlash nach den bewegten Jahren des Frauenstreiks von 1991 und der erfolgreichen Bundesrätinnenwahl von 1993. Es gebe keine eigentliche aktive Frauenbewegung mehr, bilanzierte ich damals. Natürlich waren Politikerinnen und Frauenorganisationen nach wie vor an der Arbeit, aber die Zeit der farbigen, lauten, provokativen Frauenbewegung war tatsächlich vorbei.

Gender Trouble
Bereits in den 1980er Jahren hatte sich die Unterscheidung zwischen Sex und Gender, also die Unterscheidung zwischen biologischem und sozialem Geschlecht, durchgesetzt, mindestens auf theoretischer Ebene. Das Sex-Gender- System sollte den Weg zur Veränderung der Machverhältnisse öffnen.
Im Verlauf der 1990er Jahre hatte es Hochkonjunktur. Die Rede war nun von Gender Studies, Gender Planning, Gender Training, Gender Awareness, Gender Blindness, Gender Budgeting bis hin zum Gender Mainstreaming. Damit wurde das Augenmerk darauf gerichtet, dass nicht nur das weibliche, sondern auch das männliche Geschlecht ein Konstrukt sei, dass wir immer ganz genau hinschauen müssten, wie Frauen und Männer leben, arbeiten, welche Funktionen sie haben, was sie an Ressourcen mitbringen, welche Finanzmittel ihnen zur Verfügung stehen oder auch, wem die Finanzmittel zugute kommen.
Auf der theoretischen Ebene wurde das Sex-Gender-System jedoch bereits hinterfragt. Poststrukturalistische Theoretikerinnen wiesen nun auch das biologische Geschlecht als soziales Konstrukt aus. Judith Butler stellt in ihrem Buch Gender Trouble in den Raum, dass es nicht nur zwei Geschlechter gebe, sondern viele und dass Menschen im Laufe ihres Lebens ihre Geschlechtsidentität überdenken, in Frage stellen, wechseln.[2] Das ist eine unzulässige Verkürzung der komplexen Theorien von Butler. Sie muss hier genügen. Aber sie steht eigentlich am Anfang der LGBTQIA+[3]-Bewegung.

Das weibliche WIR verschleiert Unterschiede
Auch von anderer Seite wurde mehr Diversität gefordert. (Afro)amerikanische Feministinnen hatten bereits in den 1980er Jahren das feministische WIR als «eine weisse mittelständische Vorstellung von ‘Frau’ und ‘Realität’»[4] entlarvt, die Herkunft, Hautfarbe oder Klasse verschleiere. Mit der wachsenden Zahl von Menschen mit einem Fluchtschicksal oder mit Migrationshintergrund in unserem Land ist diese Diskussion voll bei uns angekommen. Das gilt auch für die Debatten #BlackLivesMatter (ab 2013) und #metoo (ab 2017).

Wer ist heute das politische Subjekt?
Mit der immer grösser werdenden Diversität nimmt die Komplexität zu. Gibt es überhaupt noch ein politisches Subjekt Frau, frage ich mich? Diskutierte man früher über die Gleichstellung von Frauen und Männern, setzen wir heute nach einer Geschlechterbezeichnung ein Sternchen – Frauen*, Männer* -, um anzudeuten, dass alle Geschlechtsidentitäten gemeint sind. Die Veranstalterinnen des 14. Juni 2019 sprachen von Frauen*streik oder feministischem Streik. Die LGBTQIA+-Community war also eingeschlossen, jedenfalls Teile davon. Und der feministische Streik von 2021 zum 50-Jahre-Jubiläum des Frauenstimmrechts hat meiner Ansicht nach deutlich gemacht, dass es eine lebendige inklusive Frauen*bewegung gibt. Allgemein haben Frauen-, Geschlechterthemen an Bedeutung gewonnen.
Wer hätte noch vor ein paar Jahren gedacht, dass auf einem beliebigen Formular der Behörden bei der Geschlechterbezeichnung drei Möglichkeiten zur Verfügung stehen: männlich, weiblich, divers.


[1] Simone de Beauvoir (1949): Le Deuxième Sex. Deutsch (1951): Das andere Geschlecht.
[2] Judith Butler (1990): Gender Trouble, Feminism and the Subversion of Identity. Deutsch 1991: Das Unbehagen der Geschlechter.
[3] Lesbian/Gay/Bisexuell/Transgender/Queer/Intersex/Asexual. Das Pluszeichen steht für weitere mögliche Geschlechtsidentitäten.
[4] Elisabeth Joris und Anja Suter in: Frauengeschichte(n) (2021), S. 577.


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