Text: Monika Fischer, Foto: Doris Hüsler
Nach anfänglicher Ablehnung findet die alte Frau Schneebeli über die Musik eine gemeinsame menschliche Ebene mit dem dunkelhäutigen Spitexmitarbeiter Cissokho. Das sinnliche Musiktheater «Chuenägele» setzt mit leisem Humor ein Zeichen gegen Vorurteile und Rassismus.
(Fortsetzung)
Leise singend zupft die alte Frau Schneebeli Federn aus ihrem Kissen und bläst sie in die Luft. Sie möchte eine Decke über die Blumen schneien lassen. Es ist das, was ihrem einsamen Leben noch Sinn gibt. Deshalb wird sie Schneeflocke genannt. Sie betrachtet sich im Spiegel, «Alte Schachtel», murmelt sie und holt den Revolver hervor, den sie für alle Fälle aufbewahrt hat. Danach versetzt sie der Anblick des aus jungen Tagen aufbewahrten «Nick-Negerleins» ins Träumen. Sie denkt an ihren ehemaligen Schulkollegen Pater Schosef, der als Weisser Vater in einem afrikanischen Land wirkte und fragt: «Kommt heute eigentlich niemand?» Ungeduldig wartet sie auf die Mitarbeiterin der Spitex.
Ablehnung wegen Vorurteilen
Sadio Cissokho legt nach dem leisen Spiel neben der Bühne seine Kora beiseite, schlingt die Gebetsschnur um die Hand, zieht die Spitexschürze über, konsultiert den Laptop und meldet sich danach bei Frau Schneebeli. Diese erschrickt, als anstelle von Frau Fröhlich ein fremd aussehender Mann vor der Türe steht. Sie will wissen, woher er ursprünglich und ur-ursprünglich kommt und hat Angst, er sei vielleicht ein Terrorist. Der junge Mann erklärt, dass auch er zu Gott betet. Die alte Frau erzählt ihm von Pater Schosef, der in afrikanischen Ländern als Missionar für die «armen Negerlein» gearbeitet hat, was ihn empört. «Wir sind keine armen Negerlein. Wir sind reich, wir besitzen die Weisheit alter Menschen.» Widerwillig lässt sich die alte Frau die Stützstrümpfe anziehen, den Blutdruck messen und die Medikamente verabreichen. Nach seinem Weggang holt sie den Rosenkranz hervor, schwelgt in Erinnerungen an ihre verbotenen Treffen mit dem Pater und lebt dabei sichtlich auf.
Musik als verbindende Brücke
In Verlauf des Stücks findet der Pflegefachmann über seine Musik einen Draht zur alten Frau. Sein Gesang und das Spiel auf der Kora beruhigen sie. Sie nennt ihn Schwarzlocke, taut mehr und mehr auf und wünscht sich Musik anstelle von Tabletten. Er notiert mit gutem Gewissen «13 Minuten Musik für Frau Schneebeli» in seinem Rapport mit dem Hinweis, Musik sei schliesslich Medizin. Dies führt zu einem Verweis seiner Chefin. Es sei ein Verstoss gegen die Regeln, während der Arbeit zu singen. «Wir haben nicht so viel Zeit. Das Pflegepersonal muss eine professionelle Haltung zeigen.» Er erzählt der alten Frau von dem Verweis und macht einen Vorschlag. Da er den Job nicht verlieren möchte, will er für sie in der Freizeit Musik machen. Zum Rhythmus der Büchse voller Medikamente beginnt er zu tanzen und in seiner Sprache zu singen. Sie summt, singt zuerst zaghaft, dann immer kräftiger mit und schmeisst schliesslich den Rollator in eine Ecke. Durch die «Musik wie Feuer» neu belebt hat sie eine Idee. Sie möchte ein Dankeskonzert für die Spitex und für Christen und Muslime, für Alt und Jung, Gläubige und Ungläubige organisieren. Diese Utopie wird im Stück als Traumsequenz eingebaut. Schwarzlocke spielt und tanzt, verwandelt sich in einen Feuervogel. Auch Schneeflocke beginnt zu tanzen und verwandelt sich in eine Eisbärin. Es ist ein Befreiungstanz.
Das Ergebnis einer gemeinsamen Reise
«Chuenägele» ist das neuste Stück einer Reihe von Produktionen von «visch&fogel» der Theaterautorin und Schauspielerin Vreni Achermann und dem Produktionsleiter Hans Troxler. Während der Pandemie setzte sich das Ehepaar vertieft mit unserem Gesellschaftssystem auseinander. Im Zentrum standen zwei unterschiedliche Gruppen, die aufeinander angewiesen sind: Zum einem die ältere Generation, die den Lebensabend oft einsam und isoliert verbringt. Zum andern das Pflegepersonal mit einem grossen Anteil von Menschen aus anderen Kulturen, ohne die das Gesundheitssystem zusammenbrechen würde. «Chuenägele» macht den kulturellen Hintergrund und die Lebenssituation dieser beiden unterschiedlichen Gruppen sichtbar und zeigt: Es reicht nicht, den Patientinnen und Patienten die Medikamente zu verabreichen. Wesentlich ist, mit ihnen in Beziehung zu treten. Dafür braucht es Zeit, die oft fehlt. Vreni Achermann erklärt: «Die Begegnung mit dem Fremden schärft den Blick auf den eigenen kulturell bedingten Umgang mit den alten Menschen. Gleichzeitig wollten wir People of Color eine Möglichkeit zur Identifikation bieten und Vorurteile aufbrechen.»
Im Prozess entwickelt
Das Theaterstück wurde in Zusammenarbeit mit dem Regisseur Ueli Blum und dem Musiker und Schauspieler Sadio Cissokho prozesshaft entwickelt. Letzterer wurde früh einbezogen, indem er von der Lebensweise in seiner Heimat Senegal erzählte. Lachend beschreibt er das Leben in der 22-köpfigen Grossfamilie mit Menschen verschiedener Altersstufen: «Wir haben einen offenen und guten Kontakt untereinander und helfen uns gegenseitig. Es ist für mich unvorstellbar, dass meine alte Grossmutter allein leben müsste.» Vreni Achermann baute seine Geschichten teilweise in seiner Muttersprache Wolof ins Stück ein. «Es wirkt lebendiger und tönt wie Musik, auch wenn man es nicht konkret versteht.»
Das Zusammentreffen der zwei unterschiedlichen Lebenswelten gab im Laufe des Prozesses dem Theater den Namen «Chuenägele»: Es ist das Kribbeln, das entsteht, wenn heiss und kalt aufeinandertreffen.
Die Utopie als Traumsequenz
«Chuenägele» möchte eine interkulturelle Auseinandersetzung auf verschiedenen Ebenen anregen, den Dialog zwischen Alt und Jung, Weiss und Schwarz, Christen und Muslimen und damit zu einem Gegenentwurf unserer Gesellschaft als Antrieb sozialer Erfindungen werden. Gemäss Regisseur Ueli Blum ergeben sich dazu im Theater viele Möglichkeiten. Das Gleichgewicht zum Beispiel wird hergestellt durch die fremde Musik mit ihren eigenen Melodien und Rhythmen und den leichten Federchen als Gegensatz zur festen Ordnung des Spitexbetriebes. Oder durch die Darstellung einer Utopie, die als eine Traumsequenz eingebaut wurde. «Die Utopie ist Denken nach vorne als Kritik dessen, was ist und die Darstellung von dem, was sein könnte. Damit verweist sie auf Alternativen zum Bestehenden. In diesem Sinn kann das Theater eine Gegenwelt kreieren und aufzuzeigen: Es ist eine die Chance für die Gesellschaft, wenn unterschiedliche Kulturen sich begegnen. Das weckt Hoffnung.»
Chuenägele als Tourneetheater
Die Aufführungen von «Chuenägele» werden von verschiedenen Stiftungen unterstützt und stehen unter der Patenschaft von Pro Senectute Kanton Luzern und vom Spitexverband Luzern. Das Theater kann von Spitexorganisationen, Pro Senectute, Kirchgemeinden usw. gebucht werden.
Kontakt
Hans Troxler
Kreuzstrasse 5a
6130 Willisau
T: 041 970 33 70, hans_troxler@bluewin.ch
visch-und-folgel.ch
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