Text: Marie-Louise Barben, Fotos zvg
Foto Porträt: Marie-Louise Barben
Sie war unter anderem Still- und Lebensberaterin, hatte neben ihrer Grossfamilie eine eigene Praxis für Homöopathie, baute in Gambia ein Projekt auf und leitet heute eine Gruppe von Freiwilligen im Bereich von Palliative Care. Gegen Ende des Gesprächs seufzt Madeleine Lehmann auf: «Mein Herz ist so voll, es war wohl alles ein bisschen chaotisch.» Nein, chaotisch habe ich es nicht empfunden, aber dicht, vielfältig, emotional und unglaublich reich.
(Fortsetzung)
Pfarrerstochter und junge Ehefrau
Madeleine Buri wächst zusammen mit einem Bruder und einer Schwester in einer Pfarrersfamilie auf, zunächst im Berner Jura, dann in Laufen, bis ihr Vater 1961 die Leitung der reformierten Heimstätte Gwatt am Thunersee übernimmt. Als Madeleine 16 Jahre alt ist, ergänzt eine Nachzüglerin die Familie. Madeleine geht in Einigen und Spiez in die Primar- und Sekundarschule und absolviert anschliessend die vierjährige Ausbildung am Lehrerinnenseminar in Thun.
In dieser Zeit lernt sie Thomas Lehmann, einen angehenden Arzt, kennen. Schon bald heiraten die beiden. Madeleine ist kaum zwanzig Jahre alt. Sie sagt: «Meine Schwiegereltern hätten kaum geduldet, dass wir unverheiratet zusammenleben.» Sie hängt an das Seminar gleich eine zweijährige Ausbildung zur Heilpädagogin an und pendelt jeden Tag zwischen Freiburg und Oberdiessbach, wo Thomas seine erste Assistenzstelle gefunden hat.
Geburten, Stellenwechsel und Umzüge
Noch in Oberdiessbach kündet sich 1977 das erste Kind an. Madeleine: «Ich habe mich wahnsinnig gefreut, aber es war eine schwierige Schwangerschaft.» Mit dem kleinen Dominik zieht das Paar mitten im Winter nach Braunwald. Thomas tritt dort eine neue Stelle an. «Wir sind oft umgezogen», lacht Madeleine, «und jedesmal hatten wir entweder ein Kind oder einen Hund mehr.»
Nach nur einem Jahr geht es schon wieder zurück nach Bern. Thomas arbeitet nun am Kinderspital. Zusammen mit anderen Frauen engagiert sich Madeleine für Kinder, die damals im Spital noch nicht einmal besucht werden durften, und ist an der Gründung des Vereins Kind und Krankenhaus beteiligt. Es entstehen ein Spielzimmer und ein monatliches Beratungsangebot für Eltern. «Damals gab es noch nichts dergleichen», erläutert Madeleine.
1979 kommt Joël zur Welt. Die vierköpfige Familie zieht zunächst ins Haus der Grosseltern im Liebefeld und dann nach Thun, wo Thomas nun im lokalen Spital arbeitet. Madeleine erzählt: «Joël hatte als Säugling häufig Koliken. Deswegen habe ich mich an die La Leche-Liga gewandt und dort Beratung und Unterstützung erhalten.» Dabei bleibt es aber nicht. Sie macht die Ausbildung zur Stillberaterin, berät über Jahre junge Mütter und leitet Stillgruppen. Sie hilft mit, eine international anerkannte Ausbildung in der Schweiz zu etablieren und schliesst diese selber ab. Sie ist jetzt Still- und Laktationsberaterin IBCLC . Das zieht eine rege Beratungs- und Kurstätigkeit nach sich.
In den folgenden Jahren hat Madeleine zwei Fehlgeburten. Am 15. Juli 1983 schreibt sie aber in ihr Tagebuch: <Viel ist geschehen, vieles wäre nachzutragen. Zwei Jahre des Wartens auf eine Schwangerschaft. Jetzt bin ich schwanger. Das ist wohl auch der Grund, warum es mich wieder treibt, meine Gedanken und Gefühle aufzuschreiben.>
Das Tagebuch
Aus diesem Tagebuch ist ein Buch geworden: Joachim – Die lange Geschichte eines kurzen Lebens.
An einem Nachmittag im September lese ich das Buch in einem Zug. Was für eine unglaublich belastende Zeit hat Madeleine durchgemacht. Sie beginnt zwei Monate vor dem Geburtstermin mit der Aufzeichnung ihrer Gedanken, beschreibt ihr Glück, fragt sich aber schon in diesem ihrem ersten Eintrag, ob das Kind in ihrem Bauch es bis zum Geburtstermin schaffen würde. Nur knapp zwei Wochen später haben ihre Befürchtungen zugenommen: <Kind, du bist viel zu klein>, schreibt sie, <warum wächst du nicht? Du bewegst dich zu wenig, vieles scheint nicht zu stimmen. Das tut weh.>
Untersuchungen folgen, das Kind wiegt nur knapp ein Kilo. Soll die Schwangerschaft abgebrochen werden? Besteht die Gefahr einer Missbildung? Die Angst um das ungeborene Kind ist gross. <Nie mehr wird es so sein wie vorher>, schreibt Madeleine am 29. Juli. <Wir müssen einen Namen haben für dich, Kind, du gehörst zu uns.> Zwei Tage später sind Mutter und Kind im Spital. Weitere Untersuchungen folgen. Die Mutter balanciert am Ufer ihres «Verzweiflungssees». So drückt sie sich in ihrem Tagebuch aus. Am 4. August kommt Joachim mit Kaiserschnitt auf die Welt. Er wird ins Kinderspital verlegt. Er kämpft noch drei Tage. Der Vater ist bei ihm, als er am vierten Tag stirbt. «Er hatte keine Kraft mehr», sagt der Vater am Telefon. Die Trauer ist unermesslich. Die Mutter hört nicht auf, die Frage zu stellen: Warum? Warum? Warum? Eine grosse Leere breitet sich aus. Lange bleibt der Schmerz übermächtig, wenn auch der Alltag wieder Einzug hält.
Madeleine Lehmann-Buri (1994): Joachim. Die lange Geschichte eines kurzen Lebens. Kann bestellt werden unter https://mlehpraxis.ch/ueber-mich/
Das Leben geht weiter
Und es hält kurze Zeit nach Joachims Tod ein einschneidendes Ereignis für die aus der Balance geratene Familie bereit. Im September des gleichen Jahres nehmen Lehmanns die sieben monatige Alexandra auf. Ihre Eltern waren nicht in der Lage, für das Kind zu sorgen. Madeleine: «Es war nicht geplant, es ist einfach passiert. Ich habe gar nicht überlegt. Wir haben einfach ja gesagt, als wir gefragt wurden, ob wir sie aufnehmen könnten.»
«Sie hatte es nicht leicht», sagt Madeleine und denkt an diese erste Zeit des Kindes bei Eltern, die ihm nicht die nötige Geborgenheit geben konnten. Als es vier Jahre alt ist, dürfen Lehmanns das Mädchen adoptieren. «Ich habe nichts bereut», fügt sie bei, «aber ich habe auch oft geweint in dieser Zeit».
Etwas soll in diesem Zusammenhang noch erwähnt werden. Madeleine: «Während Joachims Schwangerschaft habe ich geträumt, dass ich ein Kind geboren hätte, aber es war nicht bei mir. Ich habe nach der Geburt angefangen, nach diesem Kind zu suchen. Dieser Traum hat mich lange verfolgt.» Um Weihnachten 1983 schreibt sie in ihr Tagebuch: <Ich glaube, Joachim, dass du es warst, der Alexandra den Weg zu uns gezeigt hat.>
Im Frühling 1984 ist Madeleine wieder schwanger. Freude, Trauer und Angst vermischen sich. <Kind, spürst du, wie ich mich auf dich freue, auch wenn ich um Joachim weine?> Anfangs gibt es noch viel Angst, ob die Schwangerschaft diesmal gut verlaufen würde. Zum Glück geht alles gut. Im November kommt Annouk auf die Welt. Ein Jahr später schreibt Madeleine in ihr Tagebuch, sie sei glücklich, der immer noch grosse Schmerz um Joachim habe jetzt Platz. Und im Januar 1986 kündigt sich schon Noëmi an.
Der Weg zur Homöopathie
<Mit der Geburt von Noëmi beginnt eine lebhafte lebendige Grossfamilienzeit>, steht Ende September 1986 im Tagebuch. Die Kinder sind zu diesem Zeitpunkt neun, sieben, vier, zwei Jahre alt und das jüngste gerade ein paar Wochen. «Dominik, der älteste, kam gerade ins Schulalter, als Joachim gestorben ist. Wir schickten ihn – und darauf alle unsere Kinder – in die Steiner-Schule, zunächst in Bern, dann in Ittigen», erzählt Madeleine. Damit werden Madeleine und Thomas Steiner-Eltern. Ihre aktive Beteiligung ist nicht nur gefragt, sondern erwartet. Während vieler Jahre organisiert Madeleine den jährlichen Flohmarkt und acht Jahre den zweitägigen Basar. «Das war eine grosse Aufgabe mit vielen unterschiedlichen Gruppen und freiwilligen HelferInnen. Ich konnte mir dabei einiges an Führungskompetenz aneignen», sagt Madeleine.
Ich entnehme Madeleines Lebenslauf, dass sie 1999 eine eigene Praxis für Homöopathie eröffnet hat und frage sie: «Wie hast du es geschafft, eine Ausbildung zu absolvieren in dieser turbulenten Familienzeit?» Madeleine: «Auf die Homöopathie bin ich wegen der Buben gestossen. Sie waren oft krank, hatten Lungenentzündungen und bekamen deswegen immer wieder Antibiotika verabreicht. Ich habe dann einen Homöopathen aufgesucht und von da an hat keines unserer Kinder je mehr ein Antibiotikum geschluckt.»
Zunächst im Selbststudium und im Rahmen ihrer Tätigkeit als Stillberaterin nähert sich Madeleine der Homöopathie an. Irgendwann muss sie sich entscheiden: «Entweder lerne ich es richtig oder ich höre damit auf.» Sie absolviert die vierjährige Samuel-Hahnemann-Schule in Aarau. Es war der einzige familienkompatible Ausbildungsgang. Thomas, obschon vielbeschäftigt, unterstützt sie nach Kräften.
Kaum hat Madeleine 1999 die Ausbildung abgeschlossen, eröffnet sie eine eigene Praxis. Sie läuft von Anfang an gut. Denn Madeleine hat viele Jahre Stillberatung gemacht in der ganzen Schweiz. Sie hat Pflegende in den Geburtsabteilungen von Spitälern unterrichtet. Sie wurde auch immer wieder angefragt, wie man Eltern begleitet, die ein Kind verloren haben und hat dazu ein Modul für Wochenbettpflegende entwickelt. In diesen Ausbildungseinheiten hat sie manchmal aus dem Joachim-Tagebuch vorgelesen. Erst 1994, also zehn Jahre später, ist das Joachim-Buch veröffentlicht worden. «Es ist keine Literatur», sagt Madeleine, «es ist der Erfahrungsbericht einer betroffenen Mutter». Die oben erwähnte Lehr- und Kurstätigkeit haben Madeleine recht bekannt gemacht und aus diesen Kreisen stammen viele der PatientInnen ihrer über Jahre gut laufenden Praxis.
Gambia – die Vorgeschichte
«Das änderte sich dann mit Gambia», sagt Madeleine trocken. Und damit eröffnen wir ein neues Kapitel im Lebensbuch von Madeleine Lehmann. Durch die Heirat von Annouk mit einem Gambier hört Madeleine zum ersten Mal von dem kleinen Land in Westafrika. «Und irgendeinmal wollte ich mehr darüber wissen, wo mein Schwiegersohn herkommt», sagt Madeleine. Sie reist 2005 zum ersten Mal nach Gambia. «Ich weiss eigentlich nicht genau, warum ich dann wieder nach Gambia gereist bin. Und dann nochmal und nochmal. Bis heute.»
In diesen Jahren wurde Madeleine Grossmutter von fünf Enkelkindern. 2006 von Emmanuel, 2010 von Isatou, Niculin und Kai und 2013 von Idriss. Isatou und Idriss haben auch noch Grosseltern in Gambia.
Gambia – Mussu Kunda, Kendeyaa und Help
Wenn Madeleine, die Homöopathin, reist, dann hat sie «Chügeli» dabei. Sofort scharen sich Leute um sie, die ein Leiden haben. Die ganze bald 20-jährige Geschichte des Gambia-Projekts zu erzählen, sprengt den Rahmen dieses Beitrags bei weitem. Nur so viel: Madeleine gründet 2007 in der Schweiz einen Unterstützungsverein, die Gambia Friends, und nimmt Kontakt auf mit dem international tätigen Verein hmsuisse. Meine Tochter Gabrielle Barben stösst 2009 dazu und baut eine dreijährige Homöopathieausbildung auf. Die gambische Künstlerin und Leiterin des Kulturzentrums Mama Africa, Isha Fofana, wird Projektleiterin vor Ort.
Trotz der vollständigen Zerstörung des Projekt-und Kulturzentrums
durch die damalige Regierung geht die Arbeit weiter. Madeleine findet grosszügige Sponsoren in der Schweiz, die den Wiederaufbau ermöglichen. Heute ist das Gambia-Projekt eines der von der Natural Health Swiss Foundation (NHSF) unterstützten Hauptprojekte. Drei erfolgreiche Teilprojekte werden betrieben: Mussu Kunda (Haus der Frauen) bietet Kurse zur natürlichen Familienplanung an; Kendeyaa (gesund sein) fokussiert mit einem Ambulatorium und mobilen Kliniken in den Dörfern auf ganzheitliche Behandlung kranker Menschen und Help ist eine Anlaufstelle für Menschen in Not.
Von der Stillberatung zur Palliative Care
Heute ist Madeleine Lehmann Leiterin einer Gruppe von Freiwilligen, die dem Netz des regionalen Palliativnetzes der Spitex angehört. Mit der Palliativ Care hat Madeleine noch einmal eine neue Herausforderung angenommen. Selbstverständlich ist sie immer noch am Gambia-Projekt beteiligt, doch sie hofft, dort in absehbarer Zeit in die zweite Reihe treten zu können. Die Palliative Care wird sie weiterführen. Es sei eine schöne Aufgabe und füge sich gut in ihren Lebenslauf ein, sagt sie.
Madeleines abschliessenden Worte in unserem Gespräch gelten ihrem Mann Thomas: «Er hat mich immer unterstützt. Er hat Ferien genommen, wenn ich fort war und hat zu den Kindern geschaut. Wir sind ein Team, das sich gut ergänzt. Ohne ihn wäre das alles nicht möglich gewesen.»
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