Text: Bernadette Kurmann
Frauen haben sich in unseren Breitengraden viel erkämpft: rechtliche Gleichstellung, Bildung, Arbeitsplätze, anständige Löhne… Aber die Gewalt gegen sie und ihre Integrität geht unverändert weiter: weltweit und auch hier in der Schweiz. Warum nur gehören Femizide, Vergewaltigungen, körperliche Belästigungen an Schulen und Arbeitsplätzen nach wie vor zum Frauenalltag?
(Fortsetzung)
Neulich las ich von einer Zürcher Beratungsstelle, die sich gegen die Beschneidung von Mädchen einsetzt. Mädchen würden mit sechs, spätesten sieben Jahre während der Ferien in ihr Heimatland geschickt, damit sie beschnitten werden könnten. Argumentation: die Mädchen würden später sonst keine Ehemänner finden, die wollten keine unbeschnittenen Frauen. Einmal mehr war ich schmerzhaft berührt und erzählte das eben Gelesene meinem Mann.
Seine Antwort: «Ja, schlimm, aber das kennen wir ja.» Ich war enttäuscht ob dieser Antwort und merkte, dass sich ein Mann schlecht in ein solch frauliches Drama hineindenken kann. Ich überlegte und sagte zu ihm: «Stell dir vor, irgendeine Gesellschaft würde entscheiden, dass allen Buben mit fünf Jahren der Penis um zwei Zentimeter gekürzt wird: Begründung: Hygiene oder ihre Ehefrauen möchten das so. Mein Mann wirkte jetzt beklemmt.
Es geht um die Integrität der Frauen
Ich blieb mit der Frage zurück, warum nur diese weltweite Gewalt an Frauen? Warum nur werden Frauen weltweit ihrer Integrität beraubt?
Die Schweiz ist von Gewalt an Frauen nicht ausgeschlossen.
Wie kommt es zur Gewalt an Frauen?
Warum tun Männer das den Frauen an? Diese Frage beschäftigt mich seit ich ein Mädchen bin. Alles begann ganz leise: Damals hörte ich, dass in Holland bei der Geburt eines Prinzen ca. 20 Ballerschüsse abgegeben werden, bei der Geburt einer Prinzessin etwa die Hälfte. Ich konnte diesen Unterschied nicht verstehen und niemand erklärte ihn mir.
Im Verlaufe meines Lebens lernte ich, dass in der Schweiz Frauen kein Stimmrecht hatten. Dass meine Brüder ihre Stimme abgeben durften, und wir Schwestern nicht, empfand ich als grosse Ungerechtigkeit. Ich lernte noch mehr: Nämlich, dass meine Mutter ohne die Einwilligung meines Vaters keinen Beruf ausüben durfte. Dass ihr die Kirche verbot, die Pille einzunehmen, obwohl sie schon sieben Kinder geboren hatte. Dass Buben studieren sollten, nicht aber wir Mädchen: «Die heiraten ja doch».
Zweitrangigkeit der Frauen als System
Ob all dieser Ungerechtigkeiten wurde ich zur Feministin und begann für meine Rechte zu kämpfen und unsere Gesellschaft zu hinterfragen. Ich merkte, dass Philosophen wie Aristoteles, Darwin und Hegel überzeugt waren, dass ein Mann in allem, was er tut, ein höheres Niveau als die Frau erreiche: beim Denken, der Vernunft, Fantasie und im Gebrauch seiner Sinne und Hände. Und Freud sprach im 19. Jahrhundert von der «Geistesschwäche der Frauen». Und die Wissenschaft im gleichen Jahrhundert zeigte auf, dass die Frauenhirne kleiner seien als diejenigen der Männer. Und diese Befunde wurden in Zusammenhang mit der Intelligenz gestellt. Dieser «wissenschaftliche Nachweis» wurde übrigens auch bezüglich farbiger Menschen erbracht.
Festgeschrieben in den Köpfen
Solche Aussagen von «Autoritäten» verfestigten sich über Jahrhunderte in den Köpfen von Mann und Frau: Hier der Mann, Jäger, Oberhaupt von Familie und Gesellschaft. Dort die Frau, Sammlerin, von Natur aus gutmütig und beschränkt und fürs Kindergebären und -aufziehen bestimmt. Noch 2019 sagte ein Physik-Professor am Cern, dass Frauen nicht über die intellektuellen Fähigkeiten verfügen würden, um an die Physikwissenschaft etwas beizusteuern.
Die Männer haben gelernt, dass sie die Alpha-Menschen sind, zum Herrschen und Bestimmen über andere Menschen vorgesehen. Die Frauen ihrerseits haben internalisiert, sie seien minderbegabt und zum Dienen und für Betreuungsarbeit vorgesehen. Frauen, die ein Leben lang lernen, dass sie weniger begabt sind, keine Rechenaufgaben lösen oder Autopneus wechseln können, tragen solche Vorurteile in sich und verhalten sich dementsprechend.
Die Folgen
Auf der männlichen Seite erzeugten solche Grössenfantasien Alpha-Männer. Was sie anrichten, sehen wir zurzeit an Putin, Netanyahu, Xi Jinping, Kim Jong-un, die Kriege anzetteln oder unterstützen und Männer in den Krieg führen und – meist zum Machterhalt - den Tod von hunderttausenden Frauen, Männern und Kindern verantworten. In den Kriegen gehört die Vergewaltigung von Frauen zur Kriegsstrategie. Die Männer der Gegenseite sollen auf diese Weise verhöhnt und erniedrigt werden.
Und die Folge der Grössenfantasien der Männer in unserem zivilen Leben ist der Besitzanspruch auf Frauen. Das heisst, einige Männer fühlen sich berechtigt, über Frauen zu verfügen, sie zu töten und vergewaltigen, ihre Organe zu verstümmeln, sie einzusperren, sie als Gebärmaschinen für Kriege einzusetzen…
Einiges hat sich verändert
Einiges hat sich seit meiner Kindheit für die Frauen verändert: Wir haben uns das Stimm- und Wahlrecht erkämpft, können heute studieren und einen Beruf ergreifen und diesen eigenbestimmt ausüben. Und so konnten Frauen beweisen, dass wir unseren männlichen Kollegen in nichts nachstehen. Frauen werden heute Chemikerinnen, Sportlerinnen, Mechanikerinnen, Ärztinnen, Bauarbeiterinnen, Bundesrätinnen usw. Die Geschlechter erhielten gleiche Rechte, und Frauen wurde gesellschaftliche Eigenbestimmung zugestanden. Das ist der Erfolg von Frauen, die sich seit Jahrzehnten gegen solche Ungleichheiten der Geschlechter gewehrt haben. Damit haben sie Zorn, Verhöhnung, Missbilligung und erniedrigende Sprüche in Kauf genommen, aber sie haben bis heute durchgehalten. Und trotz alldem geht die Gewalt an Frauen weiter. Warum nur?
Die Männer machen es sich zu bequem
Die wenigsten männlichen Wesen sind Alpha-Männer, Mörder oder Vergewaltiger. Wir erleben heute viele sorgende, pflegende Männer in den Familien. Sie nehmen ihre Vaterrolle ernst und möchten ihren Kindern ein zärtliches, behütendes Vaterbild sein.
Solche Männer müssen sich in Gesellschaften, in denen Frauen gedemütigt, entwürdigt und misshandelt werden, unwohl und fehl am Platz fühlen. Aber warum wehren sie sich nicht stärker gegenüber der Gewalt an Frauen: ihren Müttern, Schwestern, Töchtern? Es scheint, dass sich noch immer zu viele Männer in ihrer Rolle als «bevorzugte Wesen dieser Welt» wohl fühlen.
Gemeinsam der Gewalt ein Ende setzen
Neulich las ich einen Artikel mit dem Titel: «Es genügt nicht, ein guter Mann zu sein». Die Aussage irritierte mich. Ich verstand sie nicht auf Anhieb. Aber im Moment, in dem ich über die weltweite Gewalt an Frauen nachdenke, wird mir klar: Frauen müssen gegen das Unrecht an ihnen weiterkämpfen, aber das reicht nicht. Nur wenn alle, Frauen und die «guten Männer», gemeinsam gegen dieses Unrecht aufstehen, können Belästigungen am Arbeitsplatz, Vergewaltigungen, Femizide, Verstümmelungen am fraulichen Körper gestoppt werden. Ist eine Gesellschaft Willens, die Integrität von Frauen zu schützen, dann gibt es nur diesen gemeinsamen Weg. Die Männer müssen mutiger werden. Das fängt damit an, dass in der Kaffeepause zu einem erniedrigenden Witz gegenüber Frauen hinsteht und deutlich sagt: «Stopp, das geht nicht.» Aber das braucht Mut!
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