Text und Foto 1: Irmgard Bayard
übrige Fotos: Archiv Miguel Misteli
Die 79-jährige Marguerite Louise Misteli Schmid, heute von allen nur Miguel genannt, ist geprägt von einer kurzen, glücklichen Kindheit und einer schwierigen Jugend in Solothurn, sowie den Ideen der 68er-Jahre. Sie bekleidete verschiedene politische Ämter und war die erste grüne Nationalrätin im Kanton Solothurn. Nach vielen Jahren in verschiedenen Ländern lebt sie heute mit ihrem Mann in einer 2000-Watt-Genossenschaftssiedlung in Biel. Eine Rückkehr nach Solothurn schliesst sie nicht aus.
(Fortsetzung)
Das Leben von Miguel Misteli in ein Porträt zu fassen, ist nicht einfach. Das wird mir schon bei den Vorbereitungen zu unserem Gespräch in Biel und nach dem Abhören der Sendung «Persönlich» von Radio SRF vor einigen Monaten klar. Zu umfangreich waren ihre Tätigkeit im In- und Ausland, zu komplex ihr früheres und heutiges grosses Engagement für ihre Mitmenschen. Sie erzählt lebendig, springt manchmal zwischen den Ländern und Kontinenten hin und her. Beim Gespräch merkt man schnell, dass sie zwar nicht mehr im Berufsleben steht, aber sich immer noch für Umweltanliegen und die Menschen interessiert.
Prägende Kindheit und Jugend
Als Älteste von fünf Geschwistern ist sie am 1. August 1945 in Solothurn geboren und zum Teil aufgewachsen, sogar Bürgerin der Stadt. Die Eltern tauften sie auf die Namen ihrer beiden Grossmütter Marguerite und Louise. Da sie das R ihres Namens nicht gut aussprechen konnte, wurde das zu «Miggeli» und später «Miguel». Sie wuchs in einer kleinen Wohnung im Büroteil eines Fabrikgebäudes auf. Der Vorplatz und der Garten waren der Treffpunkt vieler Kinder. Also eigentlich eine schöne Kindheit. Ihre Grossmutter führte das in Solothurn bekannte Restaurant Misteli-Gasche mit dazugehöriger Metzgerei. Mit der Heirat übernahm ihr ältester Sohn, und Vater von Miguel, die Metzgerei. Ihre Mutter stand hinter dem Ladentisch. Die Kinder wurden von der ältesten Tochter, also Miguel betreut. «Mein Bruder erkrankte schon früh an Kinderlähmung und brauchte besondere Aufmerksamkeit», erinnert sie sich. Zwar hätten Au-pair-Mädchen im Haushalt geholfen und uns Kinder betreut, «aber diese haben gewechselt. Ich bin geblieben und war somit die Konstante», erzählt sie.
Im Alter von zehn Jahren erkrankte Miguel an Wirbelsäulentuberkulose. Das sonst immer in Bewegung gewesene Kind musste neun Monate liegen, davon sechs in einem Gipsbett. «Das Positive daran war, dass ich in dieser Zeit mit Rechnen und Bücher lesen begonnen habe sowie Briefe schrieb.» Dass sie vom totalen Stillstand wieder laufen lernen musste habe sie geprägt. «Wenn ein Problem auftaucht, weiss ich, dass ich wieder hinausfinde.»
Ein ebenfalls prägendes Ereignis ihrer Jugend war der frühe Verlust ihrer Mutter. «Ich war erst 14 Jahre alt, musste sie pflegen und habe nicht verstanden, was passiert. Es hat auch nie jemand mit uns darüber gesprochen.» Da die Kinder gewohnt waren, sich selbst zu beschäftigen und teilweise zu versorgen, lief vieles weiter wie anhin. Nur der Vater veränderte sich immer mehr, ging nicht mehr zur Arbeit und war als alkoholkranker Mann kaum mehr tragbar. «Niemand hat uns geholfen, schon gar nicht die Katholische Kirche, in der die Mutter ein aktives Mitglied war», so Miguel Misteli. Der gewalttätige Vater bedrohte seine Kinder, insbesondere Miguel, mit dem Armeerevolver und erschoss sich schliesslich. Da war Miguel knappe 17 Jahre alt. Die Kinder blieben auf eigenen Wunsch zusammen. «Ich bin durch diese Begebenheiten eine starke Frau geworden, die sich ein Leben lang gewehrt hat», ist sie überzeugt.
Neugier und (immer wieder) der Wille neu zu lernen
Nach der Bezirks- und Kantonsschule arbeitete Miguel ein Jahr als Praktikantin im Architekturbüro Haller in Solothurn, studierte an der ETH in Zürich Architektur, und absolvierte zwei weitere Lehr- und Wanderjahre in Berlin. Nach dem Architekturdiplom war sie von 1972 bis 1974 Assistentin an der ETH Zürich im Studienjahr Wohnungsbau. Im Verlauf ihres Lebens kamen weitere Ausbildungen dazu. Miguel interessierte sich früh für die südamerikanische Kultur und hatte als Jugendliche eine Art «Idée fixe», dass sie einmal nach Chile auswandern würde. Chile war damals bekannt als die älteste Demokratie Lateinamerikas. So erwarb sie gegen Ende der 70er-Jahre ein Nachdiplom in Entwicklungsplanung in London bevor sie sich für Arbeit in Ländern des Südens bewarb. Nach den Jahren in Mosambik mit den klimatischen Herausforderungen studierte sie 1991 an der EPFL (École Polytechnique Fédérale in Lausanne) und machte einen Master in Umwelttechnik.
Nach dem Debakel der Nichtwahl von Christiane Brunner zur Bundesrätin 1993 – in der Zeit als sie im Nationalrat war - hatte sich Miguel vertieft für Geschlechterfragen zu interessieren begonnen und machte 1996 an der Universität von Sussex in Grossbritannien einen Kurs in Genderplanning.
Aufbau der selbstverwalteten Genossenschaft Kreuz
Aus den gesellschafts- und kulturpolitischen Diskussionen anfangs der 70er-Jahre in Solothurn bauten untereinander vernetzte Gruppen neue fortschrittliche Organisationen auf, wie die Solothurner Filmtage, die Solothurner Literaturtage sowie das erste selbstverwaltete Restaurant und Kulturzentrum der Schweiz, die «Genossenschaft Kreuz». Als Gründungsmitglied des «Kreuz» 1973 wurde aus der Architektin kurzzeitig eine Administratorin, Köchin, Servierfrau oder Kultursekretärin. Ein Bruder und eine Schwester waren mit im Team. 1979 beendete Miguel ihre Arbeit im «Kreuz» und ging zum Studium nach London.
Zweimal längere Aufenthalte in Afrika, im Balkan und in Kuba
Nach dem Entwicklungsplanungsstudium in London waren Chile oder andere lateinamerikanische Länder keine Option mehr. «Eine Freundin kam Ende der 70er-Jahre aus Mosambik zurück und riet mir, mich dort zu bewerben», erinnert sie sich an den Anstoss zu einem langjährigen Aufenthalt in Afrika. Dorthin reiste sie schliesslich 1981 und blieb zehn Jahre, über sechs davon als Stadtplanerin und Angestellte der mosambikanischen Regierung, die letzten zwei Jahre verantwortlich für ganz Mosambik. Die letzten drei Jahre baute sie als erste Koordinatorin das Programm für Helvetas auf.
In den letzten Wochen vor der Abreise nach Mosambik lernte die bis anhin als Single lebende Frau ihren Mann Herbert Schmid kennen, einen Schweizer Ökonomen und späteren Angestellten der schweizerischen Entwicklungszusammenarbeit. Mit ihm war sie in den unterschiedlichsten Ländern der Welt beruflich unterwegs, manchmal auch zu verschiedenen Zeiten. Sie engagierte sich vor allem für Frauen. Es folgten Stationen wie Südafrika, wo sie 1998 einen Fairtrade-Tourismus aufbaute und kleinere Mandate für Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit übernahm. In Nordmazedonien am Prespa-See koordinierte sie ein dörfliches Ökotourismusprojekt - und in Serbien ein Unterstützungsprogramm für sieben mittelserbische Gemeinden. In Kuba schliesslich, war sie von 2006 bis 2009 als Projektberaterin für partizipatives Wirkungsmonitoring in einem Agrarprogramm mit Kleinbauern-Gruppen tätig.
Auch das Private ist politisch
Für Miguel war immer Bedingung, dass die politischen Forderungen auch im Alltag gelebt werden. Parallel zur Gründung des «Kreuz» 1973 wurde sie als einzige POCH-Vertreterin - die POCH (Progressive Organisation der Schweiz) war im Zuge der 1968er-Studentenbewegung als Partei mit kommunistischer Orientierung gegründet worden - und als eine der vier ersten Frauen in den Solothurner Gemeinderat gewählt. 1977 kandidierte sie als erste Frau für den Solothurner Regierungsrat.
Ende 1990 kam Miguel nach fast 10 Jahren Bürgerkrieg in Mosambik nach Solothurn zurück. Bei den 1991 angesagten Nationalratswahlen waren gute Wahlchancen für einen erstmaligen Sitz der Grünen vorausgesagt. Um den Streit für den ersten Listenplatz der drei männlichen Spitzenkandidaten an der Nominationsversammlung zu beenden, wurde auf Antrag und mit Begründung des Frauenstreiks eine reine Frauenliste genehmigt. Miguel machte als Rednerin am Frauenstreik mit, wurde als Vertretung der Stadt Solothurn auf die Frauenliste delegiert – und wurde prompt als erste Solothurner Grüne Nationalrätin gewählt. Nach vier Jahren verloren die Grünen den Sitz wieder. Miguel engagierte sich ab 1990 ebenfalls als ehrenamtliche Koordinatorin der «Erklärung von Bern» mit einer Regionalgruppe in den Themen Ernährung und Gentechnologie und ab 1993 mit anderen Frauen am Aufbau eines Frauenzentrums in Solothurn.
2009, nach ihrer Rückkehr aus Kuba, wurde sie in den Kantonsrat gewählt, wo sie sechs Jahre lang blieb. Gleichzeitig sass sie bis 2020 wieder im Gemeinderat. Sie war 2022 Mitbegründerin der «2000-Watt der Region Solothurn», der sie zudem bis 2015 vorstand, ist bis heute Mitglied im Weltladen in Solothurn und bei den Klima-Grosseltern Solothurn. Zudem engagiert sie sich weiterhin für 2000-Watt-Wohnbaugenossenschaften in Solothurn und ihrem heutigen Wohnort Biel.
Gesundheitliche Probleme bremsen sie – zum Teil
Auch wenn Miguel Misteli mit verschiedenen Krankheiten und ihren Spätfolgen zu kämpfen hat, ist sie immer noch aktiv, wenn auch weniger als früher, «und vor allem im Finanzbereich der Gruppen», wie sie sagt. Und sie diskutiert gerne mit den unterschiedlichsten Menschen.
Eigene Kinder haben Miguel Misteli und Herbert Schmid nicht. «In Mosambik haben wir mal daran gedacht, aber es hat sich nicht ergeben.» Ihr Leben war und ist auch so vielfältig und erfüllt. Und wer weiss, vielleicht kehrt sie in ein paar Jahren sogar zurück nach Solothurn, wo alles begann. Doch vorher steht noch die Anschaffung eines Klaviers auf dem Programm. Sie möchte trotz Handoperationen ihre Finger beweglich halten und ihre musikalischen Kenntnisse auffrischen. Lernen hatte schliesslich immer einen grossen Stellenwert im Leben von Miguel Misteli. Also warum im Alter damit aufhören?
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