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Gegen neue Tendenzen zu Gleichstellung und Gender

Marie-Louise Barben beantwortet drei Fragen von Monika Fischer

Die Genderthematik wirft gegenwärtig hohe Wellen und hat sogar die Basler Fasnacht erreicht. So stellt die SVP unter der neuen Programmchefin Esther Friedli klare Forderungen gegen Gleichstellung, Genderthematik und Woke-Kultur. Diesen Tendenzen möchten wir Fakten entgegensetzen. Dazu haben wir drei Fragen an Marie-Louise Barben gestellt. Sie ist Initiantin und erste Leiterin der Fachstelle für die Gleichstellung von Frauen und Männern im Kanton Bern. Bei den Frauenweisheiten hat sie insbesondere im Jubiläumsjahr «50 Jahre Frauenstimmrecht» ausgehend von ihrem reichen Erfahrungsschatz kompetente Beiträge und Porträts verfasst.

(Fortsetzung)

Die SVP fordert die Auflösung der Gleichstellungsbüros für Frauen und Männer. Was hat diese Mitteilung in dir ausgelöst? Wo stehen wir aus deiner Sicht mit der Gleichberechtigung?

1990 nahm in Bern die erste kantonale Fachstelle für die Gleichstellung von Frauen und Männern ihre Arbeit auf. Sie war zunächst auf fünf Jahre befristet. Ein halbes Jahr vor Ablauf dieser Frist reichte die SVP-Grossrätin Kathrin Streit eine Motion ein. Die Gleichstellungsstelle solle in eine Stelle für Familienfragen umgewandelt werden. Das bescherte mir als Leiterin und meinen zwei Kolleginnen viel Arbeit. Wir mussten begründen, warum nach fünf Jahren die Gleichstellung im Kanton Bern nicht erreicht ist. Hinzu kam, dass wir erklären mussten, warum Familienpolitik nicht gleich Gleichstellungspolitik ist. Weder das eine noch das andere ist grundsätzlich schwierig. Aber wir mussten die Themen ja auch in bürgerlich-kompatible Argumente verpacken, Daten und Fakten dazu beibringen, die (Klein)familie weder aufs Podest stellen noch in den Abgrund reissen usw. usw. Das hat über längere Zeit unsere Energie und unsere geringen personellen Kapazitäten zu einem grossen Teil gebunden. Es hat uns aber auch Aufmerksamkeit verschafft. Die kantonale Stelle ist nach wie vor an der Arbeit.

Diese Taktik, die Gleichstellungsbüros abzuschaffen oder deren Auftrag einzuschränken oder auszuweiten, ist in den letzten 30 Jahren eine Spielwiese bürgerlicher Politik geblieben. Im Kanton Bern letztmals 2019. Zum Teil war sie auch erfolgreich, z.B. in den Kantonen Aargau, Zug und Ob- und Nidwalden, meistens aber nicht.

In den letzten Tagen haben Gewerkschaften und feministische Streikkollektive aufgerufen zum feministischen Streik 2023. Er soll gross werden. Die Themen sind gesetzt: Altersvorsorge, Gesundheit, Bildung, Care-Arbeit, Lohngleichheit, Gewalt, Mehrfachdiskriminierung etc. Es sind die bekannten Themen.

Lassen wir die Gleichstellungsfachstellen ihre Arbeit machen, genauso wie die Fachstelle für Integration oder für Menschen mit Behinderungen, die auch niemand in Frage stellt. Ihr Auftrag ist flexibel zu interpretieren, jeweils im Hinblick auf neue Erkenntnisse und gesellschaftlichen Wandel – Mehrfachdiskriminierung oder Identitätspolitik sind Beispiele dafür. Gleichstellung wird nie vollständig erfüllt sein.

Als neue Programmchefin der SVP möchte NR Esther Friedli die «Auswüchse der linken Genderdebatte bekämpfen». Von Einladungen mit dem Gendersternchen fühle sie sich nicht angesprochen und werfe sie weg, meinte sie in einem Interview. Welche Meinung hast du zu einer gendergerechten Sprache?

Kürzlich bin ich an einem Sonntagmorgen mitten in die Radiosendung «Persönlich» geraten. Eine Frau sprach von ihrer Arbeit in der Fliegerei. Unmittelbar formierte sich in meinem Kopf das Bild einer Flight Attendant. Kurz danach stellte sich heraus: Es handelte sich um Regula Eichenberger, 1983 erste Linienpilotin der Schweiz. Und ich schämte mich. War doch die Diskussion um eine geschlechtergerechte Sprache in den 1970er, -80er Jahren mein erster Zugang zur Neuen Frauenbewegung gewesen, wo mir wie Schuppen von den Augen fiel, wie patriarchal unsere Sprache konstruiert ist, wie Sprache unsere inneren Bilder beeinflusst.

Es ist mir vollständig egal, ob Esther Friedli Einladungen mit Gendersternchen in den Papierkorb wirft und mit Begriffen wie Genderwahnsinn und Sprachterror um sich wirft. Jedenfalls verschafft sie dem Thema Aufmerksamkeit. Sie wird viel Zustimmung erhalten von der einen Seite, viel Widerspruch von der anderen. Am Gendersternchen wird sich nichts ändern.

Ernsthaft der sprachlichen Gleichstellung von LGBTIQ-Menschen haben sich die Community selber sowie Gleichstellungsbüros und weitere Institutionen, z.B. Universitäten, die vorwiegend mit jungen ‚woken‘ Menschen zu tun haben, befasst. Im Internet finden sich viele praktische Vorschläge und Leitfäden für alle Situationen. Auf die Webseite von Punktgenau Gendergerecht schreiben, bin ich zufällig gestossen . Ich finde sie brauchbar, aber es gibt auch viele andere. Hier taucht nun das Gendersternchen auf. Es bedeutet, dass alle Geschlechtsvarianten eingeschlossen sind. Das ist praktisch und einfach. Es gebe nämlich, so lese ich bei punktgenau, 60 Geschlechtsvarianten. Andere Quellen sprechen gar von 72. Mir scheint jedenfalls wichtig, dass wir inklusive Sprachformen finden und nicht ausschliessende. Achtsam zu sein, sich nicht verunsichern zu lassen, notfalls nachzufragen, wie jemand/jemensch genannt werden will.

Ungelöst und schwierig scheint mir die Frage nach den Pronomen. Wie will eine Person genannt werden, die sich weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugehörig fühlt? An Vorschlägen fehlt es nicht. Einer davon ist xier – anstelle von sie und er – und xieser – anstelle von ihr und sein: „Sie/er betrachtete ihr/sein Bild im Spiegel“, würde dann heissen: „xier betrachtete xieser Bild im Spiegel“. Das tönt tatsächlich sehr fremd. Andere Neopronomen sind dey, hen, nin.

Eine hilfreiche Website, auch zu dieser Frage, ist nonbinary

Kim de l’Horizon, non-binäre Autorperson, hat 2022 mit «Blutbuch» den Schweizer und den deutschen Buchpreis gewonnen. xier, hen, dey als Pronomen kommen nicht vor, aber neue Wörter und Begriffe schon. Das Buch liest sich gut und ist sprachlich subtil gestaltet. Eine gendergerechte Sprache ist möglich.

Ebenso entschieden wehrt sich die Programmchefin der SVP gegen die «sogenannte Woke-Kultur». In einem Interview meinte sie dazu, eine kleine Minderheit, die für sich in Anspruch nehme, auf der moralisch richtigen Seite zu stehen und die ihre Gefühle verletzt sehe, wolle einer Mehrheit ihre Meinung aufzwingen, das sei doch Wahnsinn. Welche Bedeutung hat für dich die Woke-Kultur? Und warum ist sie auch künftig wichtig?

Diese Frage kann ich nur oberflächlich beantworten, denn sie ist in der Tat sehr komplex. Woke sein bedeutet aufmerksam sein gegenüber rassistischer, sexueller, sozialer Diskriminierung, ein Bewusstsein haben für mangelnde soziale Gerechtigkeit und systembedingte Benachteiligung. Im Esther-Friedlischen-Sinne wird Woke-Kultur zu einer Art Sprachverbot oder zu einer Einschränkung der freien Meinungsäusserung. Da ist der Begriff Cancel Culture nicht mehr weit. Darf man heutzutage gewisse Bücher nicht mehr publizieren, Filme nicht mehr zeigen, Musik nicht spielen, weil sie gewisse Menschengruppen herablassend darstellen (10 kleine Negerlein), Gewalt verherrlichen (Serien über Cops), Sklaverei verharmlosen (Vom Winde verweht) oder ein romantisierendes Bild von Unterdrückung (Winnetou) zeigen? Von da ist der Übergang fliessend zum Begriff der kulturellen Aneignung. Er hat verschiedene Bedeutungen: 1. die bewusste Aneignung von Elementen einer fremden Kultur, um diese abzuwerten oder lächerlich zu machen (Black Facing); 2. die Aneignung kultureller Elemente, um wirtschaftlichen Profit zu machen (Übernahme von ‘schwarzer’ Musik’ durch Weisse) und 3. «Anleihen in Kunstformen, in Mode, in Kulinarik, die nicht aus einem negativen Impuls oder aus Profitsucht erfolgen, sondern mit einer durchaus positiven Intention, die Respekt vor dem Angeeigneten erkennen lassen».

Dieser zugegebenermassen etwas hilflose Versuch, die Problematik in wenigen Zeilen zu umreissen erhärtet deren Komplexität. Tatsächlich kann jeder der Begriffe positiv oder negativ ausgelegt werden; oft gibt es eine ‘linke’ und eine ‘rechte’ Interpretation.
Verbote und Tabuisierungen seien der falsche Weg, betonen Fachleute. Mir scheint es wichtig, dass wir aufmerksam und wach gegenüber jeglicher Diskriminierung sind und bleiben. Dabei soll meiner Meinung nach Inklusion das Ziel sein und nicht Ausschluss, Verständnis und nicht Ablehnung, Diskussion und nicht Verweigerung, Offenheit und nicht Denkverbote, Auseinandersetzung und nicht Rechtfertigung. Aber mit Grenzen: rassistische, frauenfeindliche, fremdenfeindliche Äusserungen, herabwürdigende Äusserungen generell, sind in jeder Situation und in jedem Kontext unzulässig.
Hilfreiche und praktisch orientierte Tipps finden sich beispielsweise unter: Woke Kulturelle Aneignung











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