Text und Fotos: Monika Fischer
Meine Reise zum 15. Geburtstag des Wohnheims Parasolka in der Stadt Tjachiv in der Westukraine zeigte: Trotz Krieg geht das Leben weiter. Die Menschen arbeiten, besuchen den Unterricht; sie spazieren, feiern, trauern, unterstützen die Soldaten an der Front - und bangen um ihre Zukunft.
(Fortsetzung)
Die Einladung hatte mich enorm gefreut. Keinen Moment machte ich mir Sorgen, in das Land im Krieg zu reisen. Die ganz im Westen gelegene Region (Oblast) Transkarpatien ist die einzige des Landes, in der es keine nächtliche Sperrstunde gibt. Durch die langjährige gemeinsame Projektarbeit ist mir das Land mit seinen Menschen zur zweiten Heimat geworden.
Um uns die langen Wartzeiten an der Grenze zu erleichtern, hatten die Partnerinnen für uns einen Übergang von der Slowakei zu Fuss organisiert. Eine neue Erfahrung, die gut klappte. Freundlich öffnete der ukrainische Grenzer die mit einer Rolle aus Stacheldraht verstärkte Tür zu seinem Land. Neben anderen wartenden Autos am Strassenrand sahen wir bald die Frau, die uns abholte. Geschickt umkurvte sie die vielen Schlaglöcher auf der Nebenstrasse.
Schwierige Aufbauarbeit
Ich war angekommen. So wie 2005, als ich die vom Verein NeSTU (www.nestu.org) organisierte Singwoche mit dem Kammerchor Cantus in Transkarpatien besucht hatte. Auf einem Kurzbesuch bekam ich damals Einblick in das Kinderheim Vilshany im abgelegenen Tal der Tereblja. Dort lebten 200 Kinder und Jugendliche mit körperlichen und kognitiven Behinderungen. Da ihr Leben in der Sowjetzeit als minderwertig galt, wurden die Eltern gedrängt, ihr behindertes Kind nach der Geburt an den Staat abzugeben. (Gespräche mit geflüchteten Ukrainerinnen zeigen, dass diese Haltung im Land nach wie vor tief verwurzelt ist.) Dieser versorgte sie abseits der Öffentlichkeit in Heimen mit dem zum Überleben Notwenigen und geringer Zuwendung, Förderung und Bildung. Im Erwachsenenalter wurden sie in psychiatrische Anstalten verlegt. Das wollten wir, ein kleines Team von SchweizerInnen und die einheimische NGO CAMZ, durch die Schaffung des neuen Heims Parasolka (dt. Regenschirm) für junge Erwachsene für Wohnen und Beschäftigung verhindern.
Parasolka als Modellprojekt für die Ukraine
Für
die Realisierung gründeten wir den gleichnamigen Verein Parasolka. In
Zusammenarbeit mit unseren jungen Partnerinnen wurde ein Haus gekauft
und renoviert sowie ein pädagogisches Konzept unter der Leitung von
Henny Graf- de Ruiter, Luzern, erarbeitet. Fachleute hatten uns vor dem
Vorhaben im korrupten Land gewarnt. Die Geldbeschaffung war äusserst
schwierig, war doch die Ukraine damals für die meisten ein blinder Fleck
auf der Landkarte.
Die Einladung der lokalen und regionalen
Behörden in die Schweiz mit der Besichtigung von Institutionen für
Menschen mit Beeinträchtigungen ermöglichte zusammen mit vielen
Workshops von Schweizer Fachpersonen einen Paradigmenwechsel. 2009
konnten 25 junge Frauen und Männer aus dem Kinderheim Vilshany ins
Wohnheim Parasolka einziehen. Nach und nach wurden die Werkstätten ausgebaut und die Institution um die Angebote Früherziehung und eine
Tagesstätte zur Entlastung der Angehörigen erweitert.
Eine Wohnschule
ist in Planung. Um das staatliche Modellprojekt im ganzen Land bekannt
zu machen, wurden bis zum Ausbruch der Pandemie mehrtägige Konferenzen
organisiert. Die neue multidisziplinäre Fakultät an der Universität
Uschgorod sollte die Aus- und Weiterbildung in Heil- und Sozialpädagogik
für die Arbeit mit Menschen mit Beeinträchtigungen vor Ort
gewährleisten. Während der brutale Angriffskrieg die weitere Entwicklung
stoppte, ging das Leben im Wohnheim unter erschwerten Bedingungen
seinen gewohnten Gang.
Getrübte Festfreude
Die
Einladung zur Feier des 15. Geburtstages gemeinsam mit dem Vorstand
freute mich, hatte ich doch die Leitung von Projekt und Verein vor ein
paar Jahren weitergegeben. Es war ein emotionales, ein unvergessliches
Fest mit herzlichen Dankesreden, mit mitreissendem Gesang und Tanz.
Eindrücklich, wie die Bewohnerinnen und Bewohner eine Stunde auswendig
sangen und tanzten und mit ihrer Lebensfreude stürmische Begeisterung
auslösten. Ein Lichtblick für die Gäste und für unsere Partnerinnen, mit
denen wir durch die jahrelange Zusammenarbeit verbunden waren.
Auf die
Frage, ob sie das Fest auch geniessen konnte, meinte Lesja Levko: «Ja
schon, aber die Realität war immer da.» Nadja Danch ergänzte: «Es war
ein Lachen durch Tränen.» Die zweifache Mutter erzählte von ihren
Sorgen. Die achtjährige Tochter ist traumatisiert, da sie in der Schule
bei jedem Bombenalarm mit der Klasse den stickigen Keller aufsuchen
muss. Sorgen macht sie sich ebenfalls um den 15jährigen Sohn, da er sich
mit 16 registrieren lassen muss. Und doch freut sich Lesja auf die
vermehrte Anwesenheit ihrer jüngeren Tochter im Winter: «Im Hinblick auf
den zu erwartenden Engpass bei der Stromversorgung ist schon im
November Semesterende.»
Alltag zwischen Leben und Sterben
Was
bedeutet es für die Menschen in einem Land im Krieg zu leben? Eine
geringe Ahnung davon gab mir ein Gang durch die Stadt. Ich war allein
unterwegs, als die Sirene den Bombenalarm verkündete. Ich schaute mich
um, wie sich die Menschen verhalten. Einzelne blickten aufs Handy, das
die von Raketen betroffene Gegend anzeigt. Die allermeisten liessen sich
nicht stören. Im Stadtzentrum stand ich vor den Denkmälern der beiden
Weltkriege. Vor einem grossen Plakat mit den Namen der schwer
getroffenen ukrainischen Städte und Dörfer standen brennende Lichter.
Auf grossen Plakaten mit der Aufschrift «Unsere Helden» waren die im
Krieg getöteten Männer mit Foto, Namen und Geburtsjahr abgebildet.
Männer im Alter meiner Söhne zwischen 41 und 52 Jahren, viele davon
jünger. Unterwegs trafen wir immer wieder auf Strassensperren. Soldaten
kontrollierten die Autos auf der Suche nach Männern, die nicht
registriert waren. Wir erfuhren, wie viele sich verstecken, um sich
einem möglichen Kriegseinsatz zu entziehen.
Lebensnotwendige Nothilfe
Wir
besuchten auch die weiteren Projekte unserer Partnerorganisation CAMZ
(Comité d’Aide Médicale Zakarpattia), die sich neben dem Engagement im
Behindertenwesen seit Jahren unter anderem für Projekte im medizinischen
Bereich und für Menschenrechte einsetzt. Das Team von ehemals vier
Frauen leistet seit dem ersten Tag des Angriffskriegs am 22. Februar
2022 in einem Netz von verschiedenen Organisationen effiziente Nothilfe
und ist dabei auf 18 Personen angewachsen. In einem gemieteten Lagerraum
treffen in grossen Lastwagen Medikamente, Säuglingsnahrung,
Hygieneartikel sowie Generatoren aller Grössen vor allem aus Frankreich
und wenige aus der Schweiz ein. Gemäss Bedarf aus den Krisenregionen
werden die Waren verpackt, beschriftet und von einem Mitarbeiter von
Nova Poschta direkt in die Städte und Orte im Osten gefahren.
Mit
der finanziellen Unterstützung durch deutsche und französische
Organisationen konnte CAMZ mehrere Häuser kaufen, in denen aus den
Kriegsgebieten im Osten geflüchtete Menschen untergebracht sind. Eines
davon ist das Mutter-Kind-Haus in der Stadt Uschgorod. Im ehemaligen
Hotel können Frauen mit ihren Kindern während dreier Monate mit
psychologischer Begleitung wohnen, bis sie Fuss gefasst, weiterziehen
oder eine Wohnung und Arbeit gefunden haben. Nach wie vor ist der Bedarf
gross. In das grösste Zimmer wird bald eine fünfköpfige Familie,
Grossmutter, Mutter und drei Kinder, aus einer umkämpften Stadt an der
Front einziehen.
Ein Geschenk des Lebens
Ein letzter
Besuch führte ins Kinderheim Vilshany, wo alles seinen Ursprung hatte
und sich dank vereintem Einsatz ebenfalls sehr viel verbessert hat. Und
doch erschwert der Krieg die Arbeit nicht nur durch die massive
Teuerung, sondern auch durch das Fehlen von Mitarbeitenden.
Lag es an
den herzlichen Umarmungen, der Gastfreundschaft mit den Trinksprüchen,
der Verbundenheit durch die lange Zusammenarbeit, dass mich das
Zusammensein mit den mutigen und engagierten Menschen in der Ukraine
einmal mehr zutiefst berührte und stärkte? In all den Jahren hatte ich
mehr bekommen als ich geben konnte. Die Erfahrung, wie sich das
gemeinsame Ziel eines menschenwürdigen Lebens für die Schwächsten unter
widrigsten Umständen und bei kulturellen Unterschieden mit gemeinsamem
Einsatz realisiert werden kann, ist ein grosses Geschenk. Beim Abschied
kam es mir vor, ich müsse einen Teil der Familie zurückzulassen. Und
doch war mir beim Gang zurück über die Grenze mit grosser Dankbarkeit
bewusst, was es heisst, in einem sicheren und freien Land leben zu
dürfen.
www.parasolka.ch
www.cam-z.org
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