Text und Foto: Monika Fischer
Von ihrer Maisonettewohnung im sechsten Stock geniesst Evelyne Günzburger eine wunderschöne Sicht auf den Wohlensee und den Wald. Ihre Wohnung ist voller Bilder in starken Farben: Ein Gegensatz zu ihrer eng mit dem Holocaust verbundenen Familiengeschichte.
(Fortsetzung)
Mit ihrer stillen und freundlichen Art bildet sie einen ruhigen Pol an den Tagungen und in den Arbeitsgruppen der GrossmütterRevolution. Bei den intimen Gesprächen in der AG Endlichkeit habe ich einige Splitter aus ihrem Leben erfahren und möchte mehr wissen. Mit zwei Stöcken holt sie mich am Bahnhof Bern ab. Seit der Parkinson-Diagnose im Sommer geht es ihr besser. «Ich muss nichts mehr, weiss, woran ich bin und bekomme die entsprechenden Medikamente.» Mehrere Jahre litt sie an starken Schmerzen und hatte beim Gehen zunehmend Mühe. Die beiden Rückenoperationen brachten nicht die erhoffte Besserung.
Viele Onkel und Tanten
Evelyne erzählt von ihrer Herkunft. Geboren am 25. Juli 1946, ist sie in Davos aufgewachsen. «Es ist meine Heimat, die ich noch immer stark vermisse.» Ihre Eltern waren wegen ihrer Tuberkulose-Erkrankung in die Schweiz gekommen, der Vater 1934/35 aus Deutschland, die Mutter 1937 aus Polen. Beim Kuraufenthalt hatten sie sich kennen gelernt und geheiratet. Der Vater führte nach dem Krieg ein Heim mit 20 Zimmern für Menschen, die aus Konzentrationslagern befreit worden waren. «Ich war wohl behütet und hatte eine sehr schöne Kindheit und Jugend», berichtet sie und fährt fort: «Ich hatte viele Onkel und Tanten, es war immer etwas los.» Vom Schrecken des Krieges nahm sie nichts wahr. Es war für sie ein normales Leben, sie wusste nichts anderes. Erst später realisierte sie, warum einzelne Menschen wohl aus dem Bedürfnis nach Sicherheit manchmal bei ihnen in der Küche am Boden schliefen.
Als Primarschülerin wusste sie auch nicht, was der Begriff «staatenlos» im Zeugnis bedeutete und wie die Einbürgerung der Eltern 1953 ablief. Rückblickend erkannte sie anhand von Dokumenten, die sie bis heute aufbewahrt: «Es war eine Katastrophe, was sie durchmachen mussten, bis sie aufgenommen wurden, welche Steine den Menschen in den Weg gelegt worden waren.»
Befreiung aus der Enge
Nach der Primar- und Sekundarschule in Davos hätte sie gerne die Frauenhandarbeitsschule in Chur besucht. Doch wollten die Eltern nicht, dass sie wegzog. «Sie hatten ständig Angst um mich.» Deshalb besuchte sie eine Handelsschule vor Ort. Inzwischen hatten die Eltern das ehemalige Flüchtlingsheim mit Unterstützung vieler Freunde und Bekannten gekauft und es zu einem Hotel Garni umgebaut und bis 1973 geführt. Als «Mädchen für alles» half Evelyne mit, wo es nötig war.
Nach Abschluss der Ausbildung wollte sie sich der elterlichen Enge entziehen und zog nach Zürich. Ein Jahr arbeitete sie auf dem Sekretariat der Weinabteilung der Mövenpick-Kette. Ein weiteres Jahr verbrachte sie als Au-pair in einer Familie in London, was ihr enorm gut gefiel. Nach einem Besuch in der Schweiz hatte sie die klare Absicht, wieder nach England zurückzukehren – und lernte ihren zukünftigen Mann Pierre kennen.
Seit der Heirat im Oktober 1969 wohnt sie in Bern, seit 44 Jahren in der gleichen Wohnung. 1972 und 1974 wurden ihre beiden Söhne geboren, die beiden Enkel sind 22 und 15 Jahre alt.
Weiterbildungen und Berufsarbeit
«Ich machte immer Heimarbeit, war für mich doch die finanzielle Unabhängigkeit das Wichtigste», betont sie und erzählt von ihren verschiedenen Arbeitsstellen. Durch ihre geschätzte Tätigkeit im Vorstand der jüdischen Gemeinde, wurde ihr eine Stelle an einer Handelsschule angeboten. Nach einer entsprechenden Ausbildung war sie elf Jahre Lehrerin für Maschinenschreiben und Textverarbeitung. Wohl auch im Zusammenhang mit ihrer Lebensgeschichte absolvierte sie die vierjährige Ausbildung in Psychosynthese: «Eine Psychotherpie auf kreative Art», erklärt sie.
Von 1992 arbeitete sie bis zur Pensionierung auf der Frauenzentrale in Bern, wo sie neben Sekretariat, Buchhaltung, dem Einsatz in Krisenintervention auch für Veranstaltungen wie den Frauenstreik verantwortlich war. Über die Tagung auf dem Gurten 2014 kam sie zur GrossmütterRevolution und war vor zehn Jahren eine der Mitbegründerinnen des Regioforums Bern. Heute engagiert sie sich vor allem in der Arbeitsgruppe Endlichkeit und schätzt auch den Austausch in der AG über neue Altersbilder: «Da erfahre ich immer wieder viel Lebensmut, Lebenskraft und Lebensfreude.»
Religion und damit verbundene Traditionen
Eng mit ihrem Leben verbunden sind die jüdische Religion, Kultur und Geschichte. Ihr Elternhaus war streng geprägt von der Religion und ihren Traditionen. «Es war für mich normal und gehörte zu uns. So hielten wir es auch in der eigenen Familie, aber nicht so streng. Ich habe nie einen koscheren Haushalt geführt, doch haben wir die Feiertage eingehalten», erklärt Evelyne. Als Freiwillige engagierte sie sich in der jüdischen Gemeinde, brachte Kinder in den Unterricht und half bei einem Todesfall bei den traditionellen rituellen Waschungen.
Nach wie vor ist ihr wichtig Jom Kippur, den höchsten jüdischen Feiertag zu halten und in der Synagoge zu beten. Obwohl ihre Söhne den Glauben nicht praktizieren, kommt die Familie im Frühling am Pessachfest regelmässig zusammen. «Ich finde die Traditionen, vor allem die Lieder sehr schön, habe aber zunehmend Mühe mit den Texten.»
Auseinandersetzung mit der Geschichte
«Wir sind eine musische Familie», lacht Evelyne und zeigt beim Gang durch die Wohnung neben den Bildern ihres Mannes und ihres Sohnes auch ein paar eigene Werke. Da ist eine stille Landschaft, wie dahingehaucht. Es sind kleinformatige Tuschzeichnungen, rhythmisch mit verschiedenen Mustern gestaltet. Sie weist auf ein Bild, das für sie eine besondere Bedeutung hat. Dieses zeigt heftige schwarze Pinselstriche, die sich in einem hellen Gelb verlieren. Evelyne erzählt, dass sie sich erst spät mit ihrer Geschichte auseinandergesetzt und erfahren hat, dass sie fast keine Verwandten hat: «Von den drei Geschwistern des Vaters hat nur eine Schwester überlebt. Ebenso überlebte von den neun Geschwistern der Mutter nur die jüngste Schwester. Alle andern, auch die Eltern, wurden in KZs umgebracht.»
Spät liess sie sich dazu überreden, nach Wadowice nahe Krakau zu reisen, wo ihre Mutter (wie auch Papst Johannes II.) aufgewachsen war. Als sie vor dem Haus stand, fragte eine Frau, warum sie da sei. Nachdem sie ihre Geschichte erzählt hatte, lud die Frau sie ein, hineinzukommen. Sie umarmte sie und sagte: «Es ist mein Haus, jetzt aber auch ihr Haus.» Bis dahin war Polen für Evelyne ein schwarzes Loch. «Erst jetzt wurde es auch hell. So ist dieses Bild entstanden.»
Wie aber geht sie mit der Kriegssituation im Nahen Osten um? «Die Situation beschäftigt mich wohl. Doch schütze ich mich, indem ich mich draushalte. Für mich gibt es eine klare Trennung zwischen der Religion, dem Judentum, und dem Staat Israel.» Und doch versteht sie nicht, dass bisher keine Lösung gefunden wurde. «Menschen können reden miteinander, Staatsmänner nicht.»
Gegenseitige Unterstützung im Alter
Wegen der Parkinson-Krankheit hat sie keine Angst. Allerdings kann sie sich nicht mehr bücken und die Schuhe nicht mehr binden und fragt sich deshalb, was sie ohne ihren Mann machen würde. Denn auch Pierre ist gesundheitlich stark angeschlagen. Sie bewundert ihn, wie er mit seiner Situation umgeht und trotzdem positiv im Leben steht.
Was heisst es für sie, jetzt doch abhängig zu sein? «Manchmal ist es schwierig für mich. Manchmal mag ich nicht mehr und gehe nicht mehr aus dem Haus. Manchmal geht es gut», hält Evelyne fest. Was ihr hilft, sind Gänge durch die Natur, allein oder zu zweit, sowie die Familie, Freunde und Freundinnen. «Ich liebe es, Gäste am Tisch zu haben, das ist für mich das Höchste und Schönste. Deshalb organisiere ich es, viel Besuch zu haben.» Kürzlich sassen 14 Personen an ihrem Tisch. «Meine Familie aus Basel, die meine Mutter aufgenommen hatte.» Hilfreich ist für sie auch der Glaube, den sie weit auslegt als Glaube an eine höhere Macht, die für alle da ist. Diese Verbindung mit der Transzendenz, die sie oft in der Natur findet, gibt ihr Kraft. Wieder erwähnt sie die Traditionen, die sie beibehalten möchte. Das Chanukka-Fest im Dezember, wenn sie und ihr Mann am achtarmigen Leuchter täglich eine Kerze anzünden und dazu ein Lied singen, bis alle Kerzen brennen.
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