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Ungelebtes Frauenleben

Text: Bernadette Kurmann

Ein halbes Dutzend Frauen sind an diesem ersten warmen Frühlingstag im Garten zusammengekommen. Alle sind in den Siebzigern, einige über achtzig. Nach dem Kennenlern-Ritual finden wir schnell ein Thema: das Thema des ungelebten Lebens vieler Frauen.

(Fortsetzung)

„Ein Erlebnis von gestern macht mich nachdenklich“, sagt eine der Frauen. Sie habe eine Bekannte getroffen, deren Mann kürzlich gestorben war. Sie habe ihr das Beileid ausgesprochen und sei abrupt gestoppt worden: „Du brauchst nicht mit mir zu trauern. Ich bin froh dass er tot ist. Zum ersten Mal im Leben bin ich frei und kann tun und lassen, was ich will.“ Die Antwort schockierte. Die Erzählerin hatte nie wahrgenommen, dass die Bekannte von ihrem Mann dominiert worden war.

Endlich aufatmen

„Meine Tochter ist Pfarrerin und besucht in dieser Funktion immer wieder alte Ehefrauen Verstorbener. Sie erfahre immer wieder, dass vor allem Ehefrauen froh über den Tod ihrer Männer seien“, berichtete eine der Frauen. Zum ersten Mal in ihrem langen Eheleben könnten sie aufatmen und das Leben nach eigenen Vorstellungen gestalten. Eine anwesende Sozialvorsteherin einer Berggemeinde bestätigt: „Auch ich mache bei meinem Besuchen im Altersheim solche Erfahrungen: Freude über den Tod des Partners, weil eine jahrzehntelange Bevormundung weggefallen ist.“

Ein Leben lang knausrig
„Ich habe kürzlich eine Bekannte beim Einkaufen getroffen, die ihren Mann verloren hat. Ich bin bei ihr nur auf Wut gestossen.“ „Mein Mann hat ein Leben lang geknausert: Wir müssen sparen. Das können wir uns nicht leisten. Was, du brauchst schon wieder Geld?“ Ständig habe sie solche Aussagen gehört. Grund war das Haus, das der Ehemann von seinen Eltern abgekauft hatte. „Wir leisteten uns nichts: „Ferien? Die holen wir nach der Pension nach“, hiess es.“ Kleider für die Kinder und mich habe sie allesamt aus alten Stoffen genäht. Manchmal hätten sie auch Hunger gehabt.

Zwei Tage vor der Pensionierung starb der Ehemann und hinterliess ihr das Haus und ein Barvermögen von einer halben Million Franken: „Ich empfinde nur noch Wut. Wir lebten so armselig, gönnten uns nichts, weil er das so wollte. Jetzt erbe ich dieses grosse Vermögen. Ich kann mich darüber nicht freuen.“

Bevormundet auch vom Arzt

In der Runde beginnt eine Frau ihre eigene Geschichte zu erzählen. Sie heiratete sehr jung, weil sie von daheim weg wollte. Vor der Heirat wurde ihr Mann krank, das Paar suchte einen Arzt auf. Es gab keine klare Diagnose: „Das wird wieder“, hiess es. Das Paar heiratete und ein paar Monate später zeigte sich, dass ihr Mann sterbenskrank war. „Warum haben Sie mir das nicht früher gesagt?“ protestierte die Frau beim Arzt. „Ich dachte, es sei besser, wenn er heiraten würde und für ihn gesorgt sei, lautete die Antwort. „Ich war geschockt und wütend. Wenn ich von seiner Krankheit gewusst hätte, hätten wir nicht geheiratet. Er war nicht meine grosse Liebe, eher eine Gelegenheit, um wegzukommen.“ Es kamen zwei Kinder zur Welt, der Mann wurde immer kränker und brauchte Pflege. Er war ein schwieriger Patient. Dann bestimmte er, dass auch die kranke Mutter ins Haus kam. „Ich betreute sie alle, bis mein Körper streikte. Dann zog die Schwiegermutter ins Pflegeheim.

Wie war das möglich?

„Warum hast du das alles mitgemacht?“ fragen die Frauen. „Weil ich es ihm bei der Heirat versprochen hatte: ‚in guten wie in schlechten Zeiten‘. Auch weil ich keine andere Wahl hatte mit dem kranken Mann und den zwei Kindern.“

Bestürzung und Betroffenheit befällt uns Frauen und die Frage: Warum diese Abhängigkeit der Frauen? Wir werden uns schnell einig: Frauen hatten oft keine Ausbildung (du heiratest ja später sowieso einmal!). Folge davon war die ökonomische Abhängigkeit. Der Mann als Ernährer hat alle familiäre Macht und konnte bestimmen: über das Geld und was damit gekauft oder gekocht werden soll. Er bestimmte auch, wie seine Frau zu leben hat, und ob sie einem Beruf nachgehen darf. Hinzu kam die politische Abhängigkeit. Frauen durften bis 1971 weder wählen noch abstimmen. In unserer Gesellschaft wurde über Frauen bestimmt – nicht nur beim erwähnten Arzt.

Warum nur schwiegen sie?
Frauen, die heute zwischen 75 und 85 Jahre alt sind, spürten diese Abhängigkeiten im Alltag und oft auch am eigenen Körper. Einige Frauen hatten das Glück, einen Mann zu heiraten, der ihnen auf Augenhöhe begegnete. Andere wuchsen in einem Elternhaus auf, das ihnen eine Ausbildung ermöglichte. Wieder andere kamen aus eigener Kraft weiter oder heirateten nie.

Für die anderen Frauen gab es oft nur das Ausharren. Das führte dazu, dass sie ein Leben lang nach der Pfeife ihres Ehemannes zu tanzen hatten und physische und körperliche Gewalt ertrugen. Warum nur schwiegen sie all die Jahrzehnte? Aus Scham, und weil sie keinen anderen Ausweg für sich sahen, so unser Fazit.

Und heute?

Die Frauenrunde ist nachdenklich geworden, erschüttert ob so viel ungelebten Lebens. Wir sprechen von unseren Töchtern und ihren besseren Möglichkeiten heute, von unseren Söhnen, die liebevolle Väter und Partner sind. „Ja, vieles hat sich zum Besseren gewendet“, spricht eine der Frauen aus, was wir alle denken.

Eine andere entgegnet: „Und wenn wir in andere Länder schauen, wo noch immer patriarchale Strukturen vorherrschen, dann ahnen wir, wie viele Frauen nach wie vor im ‚ungelebten Leben‘ ausharren.“ Schweigen, Betroffenheit, Wut, Trauer… und die Gewissheit: Es muss auch dort besser werden.

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