Text und Porträtfoto: Irmgard Bayard
Immer in Bewegung und voller Ideen
Fast immer rot-schwarz gekleidet, in der Gesinnung rot-grün, ständig in Bewegung, tausend Ideen und Interessen, aber nie genug Zeit – das ist Anne-Regula Keller-Beglinger. Sie arbeite projektbezogen, sagt sie von sich selbst. «Darauf konzentriere ich mich, danach vergesse ich viel wieder.» Aktuell beschäftigt sie sich intensiv und parallel mit der Gründung des Mundartvereins Solothurn und Umgebung und Anlässen dreier anderer Dialektorganisationen.
(Fortsetzung)
Das Gespräch mit Anne-Regula Keller findet in ihrem Haus, das sie vor neun Jahren dank einem unerwartet grossen Erbe erwerben konnte, an wunderschöner Lage zwischen vier Klöstern und einem Schloss, aber trotzdem in Altstadtnähe von Solothurn statt. Stolz ist sie auf das integrierte Solardach und die Erdsonden sowie auf den selbst geplanten, vielseitigen Garten.
Bevor wir uns unterhalten können, muss sie unbedingt noch einen Handwerker anrufen. Trotz Regen springt sie kurz in den Garten, um die Sachlage zu erklären. Typisch Anne-Regula, so wie ich sie als ehemalige Redaktionskollegin kannte und bei Treffen immer wieder erlebe. Immer in Bewegung, immer etwas im Köcher – ausser es ist früher Morgen. Denn sie ist ein Nachtmensch.
Du bist nichts, du kannst nichts, du wirst nichts
Aufgewachsen ist die 1950 Geborene in Uster als älteste, überbehütete Tochter eines Tierarztes, zusammen mit drei ein paar Jahre jüngeren Geschwistern. Der Blick auf ihre Kindheit bei einem sehr konservativen, patriarchalen Vater und einer selbst für diese Zeit sehr rollentreuen Mutter, beides ausgeprägte Bildungsbürger, ist überschattet von deren auf Leistung getrimmten Art. «Für meinen Vater zählten nur Topleistungen, die ich unter Druck immer weniger bringen konnte», erinnert sie sich. «Dabei liebte mich mein eigentlich durchaus warmherziger Vater sehr. Aber ich lernte ab der Primarschulzeit, ich sei ja nur ein Mädchen und habe bei meiner Rolle zu bleiben. Und: Du bist nichts, du kannst nichts, du wirst nichts.»
Ihr Lichtblick in der Familie war ihr geliebter Grossvater väterlicherseits, ein Sekundarschullehrer. Bei ihm und der Grossmutter verbrachte sie viel Zeit in Zürich und vor allem in Grossvaters Heimat Braunwald in Kanton Glarus. «Er lehrte mich unglaublich viel und war es auch, der mich unterstützte, damit ich die Kantonsschule in Wetzikon besuchen durfte.» Dass sie einmal Lehrerin werden wollte, stand für Anne-Regula nämlich schon seit Kindertagen fest. Also besuchte sie nach der Matura das Oberseminar in Zürich und unterrichtete zwei Jahre in Schwamendingen. «Erst jetzt realisierte ich, dass mein Interesse nicht der Pädagogik galt, sondern dem Vermitteln von Wissen», sagt sie zu ihrer Zeit als Lehrerin. Deshalb studierte sie danach Germanistik und Volkskunde.
Vom Regen in die Traufe
Beim Hochschulsport lernte sie ihren späteren Mann, einen ETH-Chemiker, kennen und zog voller Freude mit ihm nach Basel. An der Uni Basel anerkannte man ihre bisherigen Studien jedoch nicht, worauf sie täglich vier Stunden nach Zürich pendelte. «Bald wurde ich aber schwanger und dann sehr gerne Mutter von drei Kindern.» Sie hoffte, das Studium später abschliessen zu können. «Allerdings war ich total abhängig von meinem Mann. Nun kam das fehlende Selbstwertgefühl zum Tragen: Als Morgenmuffel mit schlechtem Zeitgefühl war ich sicher eine gute Mutter, aber eine schlechte Hausfrau. Zunehmend hackte nun nach meinem Vater mein Mann auf mir rum», erzählt Anne-Regula Keller. Nach damaligem Recht war er «das Haupt der Familie» und konnte deren Wohnsitz bestimmen. So nahm ihr Gatte zu ihrem Entsetzen im Luzernischen eine Stelle an. Sie musste das geliebte Dreiländereck verlassen und nach Sempach ziehen.
Entgegen ihrer Angst vor der Enge der katholischen Zentralschweiz konnte sie dort aber schon bald auf ein gutes Netzwerk zählen. Zudem erhielt sie die Chance, als Korrespondentin für Lokalzeitungen zu schreiben und bekam bald Aufträge von diversen Zeitungen und Zeitschriften. Das war auch nötig, denn ihr Mann hatte sich in eine ihrer drei besten Freundinnen verliebt. Er zog 1987 aus, heiratete zwei Jahre nach der Scheidung wieder und zog mit der neuen Familie weiter. «Mit der Zeit realisierte ich, dass diese Tragödie eigentlich die grosse Chance für meine Entwicklung war», hält Anne-Regula Keller fest. Statt der jetzt fast unerreichbaren Uni Zürich, konnte sie sich am gerade neu eröffneten Medienausbildungszentrum MAZ in Luzern peu à peu zur diplomierten Journalistin ausbilden. Daneben hatte sie eine 50-Prozent-Stelle im Büro Luzern der Schweizerischen Depeschenagentur sda. «Weil ich als Alleinerziehende meine Kinder nicht aus dem Umfeld reissen wollte, pendelte ich nach dem MAZ-Abschluss als Teilzeitredaktorin zum Schweizerischen Samariterbund in Olten und arbeitete daneben als freie Journalistin.»
Balsam für das Selbstwertgefühl
1993 besuchte Anne-Regula Keller die erste Sonnenlandsgemeinde der Bewegung, später Stiftung SONNEschweiz, welche zwei Ärzteorganisationen nach der Klimakonferenz von Rio gegründet hatten und wurde schnell in deren harten Kern geholt. «Da waren lauter Ärzte und Ärztinnen, Professoren, Historiker – und zum ersten Mal in meinem Leben zählte, was ich sagte. Man fragte mich um meine Meinung, legte Sitzungsdaten so fest, dass ich dabei sein konnte. Welcher Balsam auf mein geschundenes Selbstwertgefühl.» Schnell besuchte sie Tagungen im Ökobereich, wurde zur Vernetzerin, engagierte sich in weiteren Organisationen, war Präsidentin aller Freischaffenden im damals noch grossen Journalistenverband Impressum. «Meine Zeit war nebst der Familie ziemlich ausgefüllt – und ich war glücklich.»
Um die Jahrtausendwende holte sie der damalige Chefredaktor als Regionalredaktorin zur Solothurner Zeitung. Bedingung: Sie musste nach Solothurn umziehen und eine Vollzeitstelle übernehmen. Die Arbeit in dieser Redaktion bezeichnet Anne-Regula zwar als überaus spannend, «aber ich musste oft bis spät nachts arbeiten und trotzdem am Morgen wieder früh in der Redaktion sein. Zeit für anderes blieb keine mehr.» Nach dem Verkauf der «Solothurner Zeitung» an die «az Medien» wurde ihr eine Stelle im damaligen Kopfblatt «Langenthaler Tagblatt» angeboten. «Mit dort nur noch halb so vielen Leuten war es unglaublich stressig, weshalb ich vorzeitig in den Unruhestand trat.» Statt danach wie geplant einige Monate lang nur zu zeichnen, malen und lesen, gründete sie den Verein 2000-Watt-Gesellschaft Region Solothurn mit. Schlag auf Schlag folgten die Gründung der Solargenossenschaft OptimaSolar und des Repaircafés «flick+werk» sowie die Organisation vieler Veranstaltungen. Sie blieb somit aktiv.
«Ich bin ein Projektmensch»
Bald wurde die Dialektologie, mit der sie sich schon an der Uni befasst hatte, für sie, die mit drei Dialekten aufgewachsen war und danach in drei anderen komplett unterschiedlichen Dialektgebieten lebte, wieder wichtiger. Engagements in immer mehr Mundartorganisationen folgten. Zudem versucht sie immer wieder, die Gründung von neuen Dialektvereinen in verschiedenen Regionen anzustossen, organisiert Lesungen und Ausflüge. «Ich bin ein Projektmensch», sagt die Vielbeschäftigte von sich. Sie widme sich einem Projekt voll und ganz – aber dann folge gleich das nächste. Auch ist sie «Schlüsselfrau» des Deutschschweizer Mundartliteraturarchivs, für das sie vor zwei Jahren einen neuen, historischen Standort in Solothurn fand – in Sichtweite ihres Hauses. «Seit 2011 ist Anne-Regula bei der GrossmütterRevolution und gleich lang in der Gruppe Solothurn von Amnesty International aktiv.» Seit vier Jahren kümmert sie sich zudem unterschiedlich intensiv um eine syrische Familie mit drei Kindern.
«Leider machen sich einige Altersgebrechen bemerkbar», bedauert Anne-Regula Keller, «viele Sportarten, unter anderem den geliebten Orientierungslauf, musste ich aufgeben. Heute mache ich noch Nordic Walking und bin mit dem Velo oder dem öV unterwegs.» Das Auto brauche sie nur noch für grössere Einkäufe oder die Fahrt zum zehnjährigen Enkel im Oberbaselbiet. «Mein Wunsch, bei mir Gartenpartys zu veranstalten, hat sich leider noch nicht erfüllt. Ich habe einfach keine Zeit dazu», sagt sie und läuft in die Küche. Jetzt sind Kaffee und Glace angesagt. Danach steht sicher eines ihrer nächsten Projekte auf dem Programm. Es ist schliesslich erst 17 Uhr.
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