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Ein Cartoon verfolgt mich

Als ich das Cartoon sah, fand ich es amüsant: Ein Bahngeleise führt durch eine topfebene, prärieähnliche Landschaft. Auf dem Geleise springt ein Ehepaar offensichtlich um sein Leben, denn vom Horizont her naht ein Zug. Da ruft die Frau: „Wenn jetzt nicht bald eine Weiche kommt, sind wir verloren!“

Inzwischen um einige Jahre älter geworden, finde ich das Cartoon nicht mehr ganz so lustig. Vor allem dann nicht, wenn mir wieder einmal aufgeht, wie ich etwas jahrelang gewohnheitsmässig auf ein- und dieselbe Weise erledigt habe. Wenn ich realisiere, wie blind ich war für ein paar Dutzend Optionen, die meinen Alltag abwechslungsreich, ja vielleicht überraschend spannend gestaltet hätten.

Das Cartoon verfolgt mich: Ist der Mensch nicht mehr als ein Gewohnheitstier?

Im Buch „Reite das Gewohnheitstier“* bricht der Autor zuerst einmal eine Lanze für dieses Tier, denn es erlaubt uns, zig tägliche Abläufe ohne grosses Nachdenken quasi im Energiesparmodus zu erledigen. Gewohnheiten geben uns auch Halt und machen uns berechenbar.

So weit, so gut. Nur gehört zu uns Menschen offenbar auch ein anderes Streben: Wir sind darauf angelegt, uns zu entwickeln. Wir wollen immer wieder über uns selbst hinauswachsen, alte Hüllen abstreifen und neue Bereiche erobern.

Unser Gewohnheitstier quittiert das erst einmal mit Widerstand. Was tun? Wie der Gefahr entrinnen, zum Sklave unserer Gewohnheiten zu werden? „Reite das Gewohnheitstier“ schreibt der Autor Heinz Schulz-Wimmer.*

Eine englische Redewendung besagt zwar „You can't teach an old dog new tricks“ – doch das gilt als überholt. Unser Gehirn ist darauf angelegt, selbst im hohen Alter noch neue Verbindungen zu schaffen. Uns etwas Neues anzugewöhnen beginnt schlicht mit dem ersten Schritt, verlangt nach Beharrlichkeit und ungezählten Wieder­holungen.

Wirklich frei in unseren Entscheidungen sind wir dann, wenn wir uns unsere Gewohnheiten bewusst aussuchen und sie sie uns geduldig antrainieren. Wie das gelingen kann, verrät uns der Autor eingängig und charmant in seinem Buch.

Seit mich das Cartoon verfolgt, versuche ich, mich täglich selbst zu überraschen. Ich gehe beispielsweise einen neuen Weg, probiere in der Küche oder sonst wo Neues aus, erledige etwas in einer anderen als der gewohnten Reihenfolge oder verbringe Tage ohne feste Pläne. Die Möglichkeiten sind unbegrenzt. Und sollte mich doch eines Tages ein Zug in der topfebenen Prärie überraschen, hoffe ich sehr, dass es mir dann gelingt, leichtfüssig aus dem Gleis zu springen ...

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Lyn Fey


* Heinz Schulz-Wimmer Reite das Gewohnheitstier– Routine raffiniert einsetzen. Kösel Verlag, München – 2010

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