Als ich sechzig wurde – und das ist eine Weile her - schlich
ich mich bei Nacht und Nebel über die grüne Grenze. Ich wollte unter
keinen Umständen Staub aufwirbeln, denn unerträglich schien mir damals
der Gedanke, fortan mit dem Kleber „60 !“ durch die Welt zu gehen.
Als ich weiterlebte und weiterfühlte wie zuvor, wunderte ich mich. Was war mein Problem gewesen? Erst nach und nach dämmerte es. Sechzig gleich: verknöchert, defizitär, unattraktiv. Woher ich dieses Bild nahm? Nein, nicht aus der Werbung. Auch den Medien oder der Gesellschaft konnte ich die Schuld nicht in die Schuhe schieben. Das Schreckgespenst befand sich in meinem Kopf - und zwar schon ziemlich lange.
Sicher, beim Älterwerden gibt es Begleiterscheinungen, auf die wir gut verzichten könnten. Wer hat nicht schon bis zum Überdruss davon gehört?
Warum nicht nach den Privilegien Ausschau halten, die im Alter auf uns warten? Privilegien, die nicht auf der Ebene von Haben oder Tun angesiedelt sind – wir kennen sie alle auswendig. Ich denke vielmehr an die Ebene des Seins.
So könnten wir es uns beispielsweise wieder erlauben, mit allen Sinnen am Leben teilzunehmen. Wie damals als Kind, als ein Sommertag genügte, um wunschlos glücklich zu sein. Stattdessen bleiben wir weiterhin auf Pflicht und Leistung fixiert und erleben uns als wertlos, wenn wir sie nicht mehr so erbringen können, wie es in jüngeren Jahren möglich war.
Dass wir nicht mehr eingespannt sind in starre Zeitpläne, die Schule, Arbeits- und Familienleben erforderten, empfinde ich als Chance, unser Leben nochmals neu zu ordnen.
Warum nicht – nebst dem materiellen – auch unseren nicht-materiellen Nachlass überdenken?
Gordon Livingston* sieht es als Pflicht alter Menschen, die Verluste mit soviel Charme und Haltung zu tragen, wie sie sie aufzubringen vermögen. „Das Wichtigste, was Eltern ihren Kindern vermitteln können, ist Optimismus - wichtiger als alles andere, was wir unseren Kindern sonst noch schuldig sind.“
Und weiter schreibt der Autor: „Es gibt kein grösseres Geschenk an die nächste Generation als die Überzeugung, dass wir bei allen Verlusten und Unsicherheiten, die das Leben nun einmal mit sich bringt, dennoch glücklich zu sein vermögen.“
Mir scheint diese Ansicht überdenkenswert. Auf dass die Schreckgespenster sich zur Ruhe begeben können.
Lyn Fey
* Gordon Livingston Zu früh alt und zu spät weise? 30 unbequeme Wahrheiten, um aus dem Leben klug zu werden - Heyne Taschenbuch, 2010
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