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Weil ich ein Mädchen war

Katharina Graber-Bieri, als Kind weggegeben, misshandelt und ausgebeutet.

Foto und Text: Bernadette Kurmann

Katharina Graber-Bieri ist 86 Jahre alt. Mit vier Wochen wird sie von ihren Eltern weggegeben. "Weil ich ein Mädchen war", mutmasst sie. Im Gegensatz zu ihr durfte der Bruder bis zur Einschulung daheim bleiben. Der Verdacht erhärtet sich, als Katharina selber Mutter wird. Bei einem Besuch sagt ihre Mutter: "Schade, dass es ein Mädchen ist. "Do hetts mier taget." Die Aussage der Mutter bohrt sich tief in die Seele ein. Das Kind kommt in die gottergebene, aber bösartige Umgebung ihrer Grossmutter. Von ihm wird erwartet, dass es seinen Lebensunterhalt verdient. Die staatliche Aufsicht fehlt, weil Käthi innerhalb der Familie lebt. Das Kind arbeitet von klein auf hart und erfährt physische und psychische Gewalt. Nach fünfzehn Jahren kommt die Erlösung. Die junge Frau geht in die Fremde und erfährt zum ersten Mal in ihrem Leben Liebe. Dieses Quantum Menschlichkeit befähigt sie, ihren eigenen sieben Kindern eine liebevolle Mutter zu sein.

(Fortsetzung)

Katharinas Eltern arbeiten und haben ein Auskommen. Es gibt keine existenzielle Not, um das Kind wegzugeben. Dennoch bringen sie es bald nach der Geburt zu den Grosseltern. Dort sitzen zehn bis zwölf Personen am Tisch, und Grossmutter führt das Zepter. Sie verteilt nach dem Morgenessen die Arbeiten. Auch Käthi packt zu, sobald sie gehen kann: wischt den Boden, wäscht Kleider, sucht Tannzapfen im Wald. Wenn sie älter ist, bringt sie die Milch in die Käserei und hilft auf dem Feld. Das Mädchen geht gerne zur Schule, lernt leicht und ist traurig, wenn sie am Mittag wieder daheim ist: "Kaum streckte ich die Nase zur Türe hinein, hatte ich wieder Arbeit am Hals."

Fromm und lieblos
Die Erwachsenen kiefeln ständig und schimpfen, wenn Käthi zu spät von der Schule kommt, eine Arbeit nicht richtig ausgeführt ist. "Alli hend am mier omedokteret." Will heissen, alle haben dem Kind Befehle erteilt und es geschlagen. "Schlag sie grad z'Tod, de semmer sie los", hört sie einen Onkel sagen. Einmal liegt das Mädchen wegen einer starken Grippe zwei Wochen im Spital. Wieder zurück, soll es das Tischgebet sprechen. Das Kind erinnert sich nicht mehr an den genauen Wortlaut. Zur Strafe kommt sie in den Saustall und auch das Nachtessen fällt aus: "Ich hatte solche Angst und habe geschrien wie am Spiess. Niemand hatte Erbarmen."

Was Katharina Graber-Bieri bis heute beschäftigt, ist die Doppelmoral ihrer Verwandten. "Die taten so fromm und waren so lieblos. Die ganze Zeit sind sie zu einem Sektenprediger gerannt." Aus Neugierde geht sie einmal mit. In der Stube ist ein Körbchen aufgestellt. Katharina staunt über die vielen Nötli . "Man muss sich mal vorstellen. Die Leute verdienten kaum etwas und hatten Nötli gespendet." Die Kollekte ist noch nicht beendet, als der Prediger die Noten zur Sicherheit in seinen Hosensack stopft und den Korb wieder hinstellt.

Alles war ihnen wichtiger als ich
Käthi kennt ihre Eltern; sie wohnen ein paar Kilometer entfernt. Manchmal ist sie dort zu Besuch. Dann behandelt sie die Mutter wie Luft, findet kein liebes Wort für ihre Tochter. Vater arbeitet als Knecht im Nachbardorf und weiss genau, wann auf dem Hof der Grossmutter ein Kalb geboren wird. Dann taucht er auf, spricht mit dem Kälbli, tätschelt es, kratzt seine Nase. Käthi stellt sich zu ihm in der Hoffnung, auch eine Zärtlichkeit zu bekommen. "Ich habe gedacht, dass er vielleicht sali sagt, ja, mir vielleicht ein Müntschi gibt. Das Kalb war ihm wichtiger. Ihm war alles wichtiger als ich." Als sie die 4. Klasse besucht, zieht auch der Bruder zur Grossmutter. Eine enge Beziehung zwischen den Geschwistern entsteht nie. Er wird von der Grossmutter bevorzugt und muss weniger arbeiten als sie. Katharina wusste damals nicht, dass die Eltern für ihren Bruder ein Kostgeld bezahlen. "Jeden Samstagmittag packte er den Rucksack und durfte heimgehen. Ich blieb zurück."

Trost in der Welt der Bücher
Trost in dieser rauen Welt bringen Käthi die Bücher. Im Winter, wenn es auf den Höfen weniger Arbeit gibt, verteilt der Lehrer Bücher an Kinder, die gerne lesen. Käthi leiht sich jeden Samstag eines aus. Eine Woche später bringt sie es zurück und nimmt ein Neues mit. Käthi ist eine Leseratte. Ihre Lieblingsautorin ist Elisabeth Müller, Pfarrerstochter von Langnau und spätere Lehrerin in Lützelflüh. Käthi liest all ihre Bücher: Vreneli, Theresli, Das Schweizerfähnchen, Die sechs Kummerbuben. "Im Sommer war das Ausleihen verboten, weil die Kinder arbeiten sollten. Ich verstehe nicht, warum mir der Lehrer nicht trotzdem ab und zu ein Buch zugesteckt hat. Er wusste doch, wie gerne ich las."

Ausbildung, Heirat und sieben Kinder
Schneiderin sollte Käthi werden, das hatten Grossmutter und die Tanten längst entschieden. Die junge Frau ist bis heute dankbar für diesen Entscheid. Ihre Lehrmeisterin ist gut zu Katharina. Zum ersten Mal in ihrem Leben erfährt sie Liebe und fühlt sich geschätzt und aufgehoben. "Dank ihr war ich später in der Lage, Liebe an meine Kinder weiterzugeben." Ihr Ehemann ist 15 Jahre älter, von Beruf Schmid, gutmütig, aber streng und nach alter Väter Sitte. Katharina ist glücklich in der Ehe. In zehn Jahren kommen sieben Kinder zur Welt. Obwohl die Familie nicht auf Rosen gebettet ist, gelingt es dem Ehepaar, im Berner Seeland ein Häuschen zu kaufen und später sogar auszubauen. Katharina ist Arbeit gewohnt. Als gelernte Schneiderin näht sie die Kleider für ihre Kinder und eine grosse Kundschaft. Eines Tages klagt sie, dass sie die viele Näharbeit kaum mehr schaffe. Ihr Mann antwortet knapp: "Du weisst, dass wir das Geld brauchen."

Bald ein Dutzend Kinder?
Nach dem siebten Kind findet Katharina, dass die Familie jetzt komplett sei. Der Frauenarzt meint: "So, wie ich das beurteile, haben sie bald ein Dutzend Kinder. Sagen Sie Ihrem Mann, er soll vorbeikommen." Der Arzt rät ihm, sich unterbinden zu lassen: Dieser tut sich schwer. An einem Wochenende lässt er sich schliesslich operieren; am Montag erscheint er wieder zur Arbeit. "Wenn das ausgekommen wäre, hätte er sich gedemütigt gefühlt." Aber er hat es machen lassen, und Katharina war dankbar. Das Ehepaar spricht nie mehr darüber. Mit 78 Jahren stirbt ihr Mann an einem Hirnschlag.

Die beste Zeit des Lebens
Ihre traurige Kindheit hat Katharina überwunden. "Später meinte es das Leben gut zu mir." Sie ist stolz darauf, dass sie trotz ihrer schlechten Startbedingungen eine gute Mutter sein konnte. Aus ihren sieben Kindern sind wunderbare Menschen geworden, und alle haben einen guten Beruf gelernt. Sie freut sich und nimmt regen Anteil an den 13 Grosskindern und zwei Urgrosskindern. Katharina lebt mit Alfred in einer Wohngemeinschaft in ihrem Haus. Sie sind alte Bekannte und Freunde und sorgen füreinander. Das Schicksal hat sie zusammengebracht: Alfred wurde wie sie als Kind von den Eltern weggegeben. Beide finden, sie durchleben im Moment die beste Zeit ihres Lebens. Manchmal packt Katharina die Wut, dann möchte sie ihren Eltern die Leviten lesen: "Sie haben mich weggegeben, weil ich ein Mädchen war. Das tut bis heute weh."

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