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Abschied nehmen und leer werden

«Loslassen macht wirklich frei», freut sich die Philosophin und Theologin Imelda Abbt.
«Loslassen macht wirklich frei», freut sich die Philosophin und Theologin Imelda Abbt.

Foto & Text: Monika Fischer

Für die Aufnahmen zum Dokfilm «Das katholische Korsett»* kehrte Imelda Abbt, 83, nach langem wieder einmal ins geschlossene Kloster der Dominikanerinnen in Weesen zurück. Die freundliche und offene Aufnahme erstaunte und freute sie, war sie doch nach zehn Jahren wieder aus dem Kloster ausgetreten. Mutig war sie damals ihrer inneren Stimme gefolgt: «Wenn ich mir selber treu bleiben will, muss ich gehen.» Ähnlich spürte sie nach Jahrzehnten intensiver Arbeit: «Es ist Zeit, von der geräumigen Wohnung und den verschiedenen Verpflichtungen Abschied zu nehmen.»

(Fortsetzung)

Den Gedanken an einen Wohnungswechsel trug sie schon lange mit sich herum. Der Entscheid fiel im letzten Sommer in der Bretagne. Dort verbringt sie seit vielen Jahren ein paar Ferienwochen und war früher oft mit dem Velo unterwegs. Bei der Beschäftigung mit den Mystikern wurde ihr die Vergänglichkeit von Raum und Zeit bewusst. Ihr war klar: «Ich will lernen, Abschied zu nehmen und leer zu werden.» Glücklich, dankbar und zufrieden leitete sie die Veränderungen ein.

Die altersgerechte Wohnung in der Stadt in einem hundertjährigen Haus fiel ihr zu. Lachend erzählt sie: «Nach 10 Minuten wusste ich, es stimmt. Das ist meine Wohnung. In der nahen Umgebung habe ich alles, was ich zum Leben brauche.» Mitnehmen möchte sie wenig. «Ich brauche nicht viel und kann arbeiten mit dem, was ich in mir habe. Das macht das Leben interessant.» Tausende von Seiten ihrer Artikel, Vorträge und Seminarien hat sie entsorgt. «Was mir wichtig war, habe ich veröffentlicht, oder es ist archiviert. Loslassen macht wirklich frei.»

Wissen, das auf Lebenserfahrung gründet
In der halb leer geräumten Wohnung berichtet Imelda Abbt von ihrer Verabschiedung als Referentin an der Seniorenuni Luzern. 22 Jahre lang hatten unzählige Menschen von ihrem reichen, mit praktischer Lebenserfahrung verbundenen Wissen profitiert. Ihre Philosophieseminare waren stets ausgebucht. Die Teilnehmenden schätzten das gemeinsame Nachdenken über grundlegende Lebensthemen verbunden mit der Bedeutung für das persönliche Leben. Dazu gehörten in den letzten Jahren die Beschäftigung mit den Mystikern und das Dialog-Seminar «Was bewegt uns Christen heute?» Grund dafür waren die Verunsicherung vieler Menschen im Zusammenhang mit der zunehmenden Säkularisierung und den Negativmeldungen über die Kirche einerseits, deren Fragen nach der Seele, dem Ewigen und dem Leben nach dem Tod andererseits. Für die Theologin ist der Glaube etwas Grundlegendes, das jeder Mensch in sich trägt und wovon er lebt. «Bei der Erfahrung von Schönheit in der Natur, in der Musik, in der Liebe spüren wir, dass es etwas gibt, das über uns ist und alles übersteigt.» Doch sei das mittelalterliche Kirchen- und Glaubensbild definitiv vorbei. «Die Botschaft des Evangeliums ist eine Botschaft der Liebe mit Jesus als Orientierung. Er hat uns die Richtung für unser Handeln gezeigt.»

Bedeutung der Geschichtlichkeit
Bei der Lektüre und in ihren Seminarien haben sich ihr immer wieder neue Erkenntnisse erschlossen. Sie verweist auf die Bedeutung der Geschichtlichkeit, auf das, was uns unüberwindbar prägt und beeinflusst. Bei ihr waren es das Elternhaus und das bäuerliche Leben im Freiamt. «Die Mutter arbeitete drinnen, hat aber doch alles dominiert. Vom Vater, der draussen arbeitete, habe ich das eigenständige Denken.» Sie wusste: «Ich muss von innen heraus handeln und den eigenen Weg gehen, dann wird es gut.» Früh trug sie den Gedanken ans Kloster in sich. Mit zwanzig Jahren trat sie in das geschlossene Kloster der Dominikanerinnen in Weesen ein. Mit diesem radikalen Schritt wollte sie «der Welt absterben, um ganz für Gott da zu sein.» Das Klosterleben war ganz der Gemeinschaft untergeordnet. Es gab keinen Kontakt mit der Aussenwelt, kein Privatleben, keine Individualität. Alles war genau vorgeschrieben. «Wir beteten für die Welt draussen. Ich putzte, lernte lateinisch, studierte Theologie. Ich war enorm glücklich, es gab für mich nichts Schöneres.» Bald traten erste Zweifel am mittelalterlichen Gottes- und Glaubensbild auf. Diese wurden immer stärker. Nach zehn Jahren wusste sie: «Wenn ich mir selber treu bleiben will, muss ich gehen.»

Was vorbei ist, ist vorbei
Sie hatte weder Geld noch Kleider und schlief in einem Zimmer auf dem Boden. Mit einem Lehrauftrag in Lebenskunde an der Kunstgewerbeschule in Zürich hielt sie sich über Wasser. «Es machte mir nichts aus. Ich war glücklich, dass ich lesen und studieren konnte.» Als erste Frau absolvierte sie das Studium der Theologie an der Hochschule in Chur. Nach dem Lizentiat leitete sie ein paar Jahre die Schule für Heimerziehung in Luzern. Wieder gab sie materielle Sicherheit für das Doktorat und das Studium der philosophischen Anthropologie (Menschenkunde) in Paris auf. Nach ihrer Rückkehr wurde sie Bildungsbeauftragte des Schweizerischen Heimverbandes und danach bis zu ihrer Pensionierung Leiterin des Bildungszentrums der Propstei Wislikofen. Näher möchte sie nicht auf die Vergangenheit und die damit verbundenen Fakten eingehen. «Das ist nicht mehr wichtig. Was vorbei ist, ist vorbei.»

Das Alter als spannende Lebensphase
Für die Zukunft macht sie keine Pläne. «Ich habe so viel erfahren und gemacht. Das gibt mir Vertrauen in das, was kommt.» Auch mit den durch Corona bedingten Einschränkungen geht sie gelassen um. Obwohl sie dieses Jahr auf die Weihnachtsfeier bei «ihrer Familie» in Dresden, wo sie aufgrund einer langjährigen Freundschaft gleichzeitig Mutter und Grossmutter ist, verzichten muss. Doch meint sie: «Wir sollten die Zeichen der Zeit deuten können. Corona zeigt uns, dass sich die Welt verändert. Wir können in unserem kleinen Leben nur sinnvoll damit umgehen.» Hilfreich bei der Auseinandersetzung ist für sie die Mystik, zu der sie durch die intensive Beschäftigung neue Zugänge gefunden hat. «Es geht in der Mystik um zwei wesentliche Fragen: Was macht dich wirklich glücklich? Wo fehlt dir etwas? Das macht deutlich: Das Leben besteht aus viel mehr als dem Materiellen.»

Das Alter als letzte Lebensphase findet sie spannend und intensiv. «Es sollte mit allem, was es mit sich bringt, selbstverständlich werden, sind wir doch Teil der Natur. So sollten wir nicht trauern, sondern glücklich sein über die vielen Möglichkeiten, das Alter selber zu gestalten. Ich möchte gut ‚ableben’ in dem Sinne, dass in jedem Tag bis zum Tod noch Leidenschaft wäre.» Obwohl nach wie vor neugierig, macht sie nicht mehr alles mit. Sie sortiert bewusst aus, was für sie noch wichtig ist, was sie trägt, beglückt und erfreut. «So erfahre ich immer wieder Glücksmomente beim Lesen, bei Spaziergängen, einem guten Essen und bei Gesprächen mit Menschen.»


*Imelda Abbt ist eine der vier Frauen, die im Dok-Film «Das katholische Korsett» von Beat Bieri und Jörg Huwyler zur Sprache kommt. Der Film zeichnet mit Frauengeschichten aus der Innerschweiz ein Zeitbild der 1970er Jahre: starke Frauen, geprägt von einem katholischen Milieu, auf dem Weg zur politisch-gesellschaftlichen Emanzipation. Die Première ist im Rahmen der Veranstaltungen zu «50 Jahre Frauenstimmrecht Luzern» am 16. Januar 2021 geplant.

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